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Frühe Nutzenbewertung nach § 35a SGB V – was müssen Vertragsärzte bei der Verordnung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen berücksichtigen?


Mit dem Inkrafttreten des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) Anfang 2011 wurde das Verfahren der frühen Nutzenbewertung etabliert. Seither wird der Stellenwert von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen im Vergleich zu bewährten Therapiealternativen durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) geprüft. Das Verfahren hat Auswirkungen für den verordnenden Vertragsarzt, da die Nutzenbewertung die Grundlage für die Verhandlung des Erstattungsbetrags und damit für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit dieser Arzneimittel bildet.

Relevante Stadien der frühen Nutzenbewertung

Vom Zeitpunkt des Markteintritts bis zum G-BA-Beschluss:
Mit dem Inverkehrbringen eines Arzneimittels mit neuem Wirkstoff müssen pharmazeutische Unternehmer in einem Dossier den medizinischen Zusatznutzen im Vergleich zur vom G-BA festgelegten zweckmäßigen Vergleichstherapie nachweisen. Die Nutzenbewertung kann der G-BA entweder selbst durchführen oder das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bzw. Dritte damit beauftragen. Sechs Monate nach dem Marktzugang fasst der G-BA einen Nutzenbewertungsbeschluss, der Teil der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) wird. Dieser Beschluss kann Auflagen für die Anwendung des Arzneimittels enthalten.

Bis zum G-BA-Beschluss gelten für neue Arzneimittel die allgemeinen Anforderungen für die Verordnungsfähigkeit, insbesondere das Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 SGB V. Damit ist ein zugelassenes Arzneimittel grundsätzlich zulasten der GKV verordnungsfähig, sofern dieses verschreibungspflichtig ist und nicht einem Leistungsausschluss nach § 34 SGB V oder nach der AM-RL unterliegt. Die Verordnung kann unwirtschaftlich sein, wenn es bei therapeutisch gleichwertigen Behandlungsalternativen eine kostengünstigere Therapieoption gibt. Allerdings besteht zu diesem Zeitpunkt eine erhöhte Beweis- und Darlegungslast durch die Prüfungsstelle.



Ab Veröffentlichung des G-BA-Beschlusses bis zur Verhandlung des Erstattungsbetrags
:
Wenn einem neuen Arzneimittel ein Zusatznutzen zugesprochen wird, erfolgt eine Differenzierung des Ausmaßes als „erheblich“, „beträchtlich“, „gering“ oder „nicht quantifizierbar“. Der Zusatznutzen kann sich auf die gesamte Indikation bzw. auf Teilindikationen beziehen. Darüber hinaus kann ein Beschluss zum Zusatznutzen zeitlich befristet werden.

Erheblicher Zusatznutzen bedeutet, dass eine nachhaltige und bisher nicht erreichte große Verbesserung des therapierelevanten Nutzens erzielt wird (Heilung der Erkrankung, erhebliche Verlängerung der Überlebensdauer, langfristige Freiheit von schwerwiegenden Symptomen, weitgehende Vermeidung schwerwiegender Nebenwirkungen). In den bisherigen Verfahren zur frühen Nutzenbewertung wurde noch keinem Arzneimittel ein erheblicher Zusatznutzen zuerkannt (Quelle: aerzteblatt.de vom 21. März 2014).

Ein beträchtlicher Zusatznutzen liegt bei einer bisher nicht erreichten deutlichen Verbesserung des therapierelevanten Nutzens vor (Abschwächung schwerwiegender Symptome, moderate Verlängerung der Lebensdauer, spürbare Linderung der Erkrankung, relevante Vermeidung schwerwiegender Nebenwirkungen, bedeutsame Vermeidung anderer Nebenwirkungen).Diese Bewertung wurde bisher in 13 Fällen ausgesprochen.

Wird eine moderate und nicht nur geringfügige Verbesserung des therapierelevanten Nutzens erzielt (Verringerung von nicht schwerwiegenden Symptomen, relevante Vermeidung von Nebenwirkungen), wird dem neuen Arzneimittel ein geringer Zusatznutzen zuerkannt, was bisher bei 22 Bewertungsverfahren der Fall war.

Ein vorhandener Zusatznutzen ist nicht quantifizierbar, wenn die wissenschaftliche Datengrundlage dies nicht zulässt. Die bisher so bewerteten sechs Arzneimittel haben jedoch aus Sicht des unparteiischen Vorsitzenden des G-BA, Josef Hecken, zum Teil sehr großes Potential (Quelle: Drucksache 18/188 des Deutschen Bundestages vom 17. Dezember 2013).

Im Gegensatz dazu wurde bislang in 26 Verfahren kein Zusatznutzen zuerkannt. Dies bedeutet, dass es den pharmazeutischen Unternehmern nicht gelungen ist, in Studien eine Verbesserung des therapierelevanten Nutzens nachzuweisen. Gründe hierfür können nicht nur in fehlenden Studien, sondern auch in der Nicht-Akzeptanz des Studiendesigns oder der Relevanz der Endpunkte durch IQWiG und G-BA liegen. Drei weitere Arzneimittel wurden ohne Bewertungsverfahren direkt einer Festbetragsgruppe zugeordnet. Bei nicht zuerkanntem Zusatznutzen haben pharmazeutische Unternehmer die Möglichkeit, bereits nach einem Jahr eine erneute Nutzenbewertung zu beantragen, wenn neue Daten zum bewerteten Arzneimittel vorliegen.

Weist ein Arzneimittel keinen Zusatznutzen auf, wird es entweder einer Festbetragsgruppe zugeordnet oder es wird ein Erstattungsbetrag vereinbart, bei dem die Therapiekosten nicht über denen vergleichbarer Arzneimittel liegen. Bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen bestimmt das Ausmaß dieses Zusatznutzens den Erstattungsbetrag. Dieser wird als Rabatt auf den Herstellerabgabepreis im Anschluss an das Nutzenbewertungsverfahren zwischen pharmazeutischen Unternehmern und GKV-Spitzenverband verhandelt. Sollten diese Verhandlungen sechs Monate nach dem G-BA-Beschluss nicht abgeschlossen sein, werden der Erstattungsbetrag und weitere Inhalte der Erstattungsvereinbarung innerhalb weiterer drei Monate durch eine Schiedsstelle festgelegt.

Solange der Erstattungsbetrag noch nicht feststeht, kann insbesondere die Verordnung von Arzneimitteln oder in Teilindikationen ohne Zusatznutzen unwirtschaftlich sein. Aber auch für Medikamente mit Zusatznutzen ist die Situation zu diesem Zeitpunkt aufgrund eines hohen Preises im Verhältnis zur Vergleichstherapie mitunter unklar. Dies sollte bei der Verordnung berücksichtigt werden.



Nach Verhandlung des Erstattungsbetrags:
Ab dem 13. Monat nach Inverkehrbringen des neuen Arzneimittels gilt, ggf. auch rückwirkend, der Erstattungsbetrag. Grundsätzlich soll dieser Erstattungsbetrag die Wirtschaftlichkeit gewährleisten.

Dennoch sind möglicherweise günstigere Therapiealternativen weiterhin in Betracht zu ziehen, da der Vertragsarzt auch im Falle der Verordnung von Arzneimitteln mit Zusatznutzen in der grundsätzlichen Verantwortung für eine medizinisch und wirtschaftlich gebotene Therapie bleibt.

Bisherige Erfahrungen mit dem Verfahren der frühen Nutzenbewertung

Seitdem Ticagrelor (Brilique®) im Jahr 2011 als erstes Arzneimittel den Prozess der frühen Nutzenbewertung durchlief, sind 70 Bewertungsverfahren durch den G-BA abgeschlossen worden. Bei den anschließenden Verhandlungen zum Erstattungsbetrag wurden Rabatte zwischen 0 und 70 Prozent ausgehandelt . Der durchschnittliche verhandelte Rabatt nach § 130b SGB V beträgt nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes 16 Prozent. In mehreren Fällen kam es jedoch zur Marktrücknahme, nachdem die pharmazeutischen Unternehmen keinen für sie akzeptablen Erstattungsbetrag erzielen konnten.

Neben dem Erstattungsbetrag sollen die Vereinbarungen zwischen GKV-Spitzenverband und pharmazeutischen Unternehmern für Arzneimittel mit Zusatznutzen vorsehen, dass Verordnungen dieser Arzneimittel von der Prüfungsstelle als Praxisbesonderheiten anerkannt werden. Bundesweite Praxisbesonderheiten wurden allerdings nur für Ticagrelor (Brilique®), Pirfenidon (Esbriet®) und Abirateronacetat (Zytiga®) vereinbart.

Hat die frühe Nutzenbewertung die erhoffte Verordnungssicherheit für Vertragsärzte gebracht?
Grundsätzlich schafft die frühe Nutzenbewertung eine wertvolle frühzeitige Orientierung und mehr Klarheit bei der Verordnung neuer Arzneimittel. Dennoch bleiben einige Unsicherheiten bestehen. So gelten Verordnungen unter den verhandelten oder festgesetzten Erstattungsbeträgen als wirtschaftlich.

Dies erscheint jedoch insbesondere aufgrund von Mischkalkulationen der Erstattungsbeträge beispielsweise bei Arzneimitteln mit Zusatznutzen nur in Teilindikationen oder bei unterschiedlich teuren zweckmäßigen Vergleichstherapien für verschiedene Patientensubgruppen in einigen Fällen fraglich. Die Krankenkassen haben angedeutet, dass sie Verordnungen von Arzneimitteln in (Teil-)Indikationen ohne Zusatznutzen als unwirtschaftlich ansehen.

Darüber hinaus wurde bisher nur für wenige Arzneimittel mit Zusatznutzen die Anerkennung als Praxisbesonderheit vereinbart. Die Verhandlungen auf Landesebene zur Aufnahme von Arzneimitteln mit Zusatznutzen in die Liste der Praxisbesonderheiten verliefen aus Sicht der KV Sachsen bisher nicht zufriedenstellend. Damit belasten Verordnungen der meisten Arzneimittel mit Zusatznutzen weiterhin das Richtgrößenvolumen und können erst im Rahmen einer Stellungnahme im Prüfverfahren als Praxisbesonderheit geltend gemacht werden.

Handlungsempfehlungen

Trotz früher Nutzenbewertung bleibt der Vertragsarzt weiterhin in der Verantwortung für die wirtschaftliche Anwendungsweise der von ihm verordneten Arzneimittel. Insbesondere in der Frühphase des Einsatzes eines neuen Arzneimittels bis zum Vorliegen eines G-BA-Beschlusses empfehlen wir daher eine gut begründete und dokumentierte Verordnung.

Behandlungsalternativen und der für den individuellen Patienten zu erwartende Nutzen sollten in die Entscheidung einbezogen werden. Aufgrund der noch begrenzten Anwendung können mögliche Neben- und Wechselwirkungen bisher unentdeckt geblieben sein. Weiterhin ist nicht auszuschließen, dass im Falle eines versagten Zusatznutzens eine Marktrücknahme des Arzneimittels erfolgt und die Patienten auf eine andere Therapie umgestellt werden müssen.

Ist die frühe Nutzenbewertung abgeschlossen, können Arzneimittel mit Zusatznutzen unter Beachtung der im G-BA-Beschluss formulierten Anforderungen an die Zweckmäßigkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit grundsätzlich relativ regresssicher verordnet werden.

In (Teil-)Indikationen, in denen bei dem jeweiligen Arzneimittel kein Zusatznutzen festgestellt wurde und in denen eine preiswertere zweckmäßige Vergleichstherapie zur Verfügung steht, bedarf es gewichtiger Gründe, wenn der Vertragsarzt eine Behandlung mit dem Präparat ohne Zusatznutzen durchführen möchte. Diese sind vom Arzt im Zeitpunkt der Verordnung entsprechend zu dokumentieren.

Weitere Informationen über einzelne bewertete Arzneimittel sowie über Details zum Verfahren der frühen Nutzenbewertung finden sie unter:

www.kbv.de/html/fruehe-nutzenbewertung.php

www.g-ba.de/themen/arzneimittel/arzneimittel-richtlinie-anlagen/nutzenbewertung-35a/

www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/arzneimittel/verhandlungen_nach_amnog/rabatt_verhandlungen_nach_amnog.jsp