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KVS-Mitteilungen

KVS-Mitteilungen - Ausgabe 07-08/2021

Dr. Hommel - Dr. Heckemann: Erinnerungen zweier Weggefährten an 30 Jahre KV Sachsen

Dr. Heckemann: Lieber Herr Hommel, nach fast 15 Jahren als Vorstandsvorsitzender haben Sie mir den Staffelstab Ende 2004 überreicht und sich berufspolitisch in den Ruhestand verabschiedet. Haben Sie diesen Schritt bereut, nicht zuletzt angesichts Ihrer noch immer bemerkenswerten Vitalität?

Dr. Hommel: Nein, vom Sklavendasein (Wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst hat, ist ein Sklave. [Friedrich Nietzsche]) hatte ich genug. Eine Praxis in Leipzig zu führen und nebenberuflich ständig nach Dresden in die Landesgeschäftsstelle zu fahren oder nach Bonn oder Berlin zur KBV oder zu Kassenverhandlungen, Tagungen, politischen Veranstaltungen … Manche halten einen ausgefüllten Terminkalender ja für ein ausgefülltes Leben, ich nicht unbedingt.

Dr. Heckemann: Ihre Rente ist also sicher?

Dr. Hommel: Herr Kollege Heckemann – ich kenne Sie: Damit spielen Sie doch auf Norbert Blüms Kampagne aus dem Jahre 1986 an, in der er behauptete: „Denn eins ist sicher: die Rente.“ Kam dann aber doch anders …

Dr. Heckemann: Nun ja, angesichts einer budgetierten Gesamtvergütung hat mich das ausufernde Leistungsversprechen in der GKV in der Tat manchmal kaum ruhig schlafen lassen. Wie in der Rentenversicherung sind Konsolidierungsmaßnahmen (dort: 1. weniger Rente, 2. später Rente, 3. höherer Rentenbeitrag) samt und sonders auch in der GKV unpopulär.

Dr. Hommel: Ja, das stimmt. Etwa genauso unpopulär wie Ihr Vorschlag für ein GKV-Kostenabrechnungsmodell, welches eine Kostenbeteiligung der Patienten an den von ihnen beanspruchten Leistungen vorsieht, um deren Kostenbewusstsein zu schärfen. Oder hat der ehemalige Abteilungsleiter des Bundesgesundheitsministeriums, Franz Knieps, seine Meinung zur Popularität Ihres Modells mittlerweile geändert?

Dr. Heckemann: Er hat als Chef des BKK-Bundesverbandes zumindest einen derartigen Handlungsbedarf für die Zukunft nun nicht mehr ausgeschlossen. Ich bin davon überzeugt, dass das System der gesetzlichen Krankenversicherung nur finanzierbar bleibt, wenn auch die Patienten veranlasst werden, wirtschaftlich zu handeln in Bezug auf GKV-Leistungen. Denken Sie doch nur z. B. an die Therapiekosten zur Behandlung von Hepatitis C – prägnanter im Jahr 2014 als 1.000-Dollar-Pille durch die Medien gegangen. Damit solche Kosten das Sozialversicherungssystem nicht überfordern, bedarf es eines Eigenbeteiligungssystems mit steuernder Wirkung. Unabhängig davon: Feinfühlig war dieser Seitenhieb in Sachen Popularität aber nicht gerade, verehrter Herr Hommel.

Dr. Hommel: Zart besaitet darf man als Vorstandsvorsitzender einer KV auch nicht sein, angesichts der Einsicht, es ganz gewiss nie allen recht zu tun. Gegenwind sind Sie doch gewohnt oder sind z. B. die Einführung der Budgets in Gestalt von RLV / QZV, die Bereitschaftsdienstreform oder die „Kontrolletti“-Aktivitäten (um Herrn Christopher Hermann aus 2008 zu zitieren) Ihrer KV – ich sage nur „Plausi-Prüfung“ von Harmonie wie ein Rosamunde-Pilcher-Film geprägt gewesen?

Dr. Heckemann: Danke für das Stichwort. Als „Kontrollettis“ hatte der mittlerweile ehemalige Vorsitzende der AOK Baden-Württemberg die KVen wegen der gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen (unter anderem zur Einhaltung der Arzneimittelrichtgrößen) diffamiert. Zumindest im Amt habe ich ihn überlebt und sein Ziel, die KVen zu destabilisieren, ist wohl auch in weite Ferne gerückt. Aber übrigens, was heißt hier eigentlich „Ihre KV“? Sie sind doch der Gründungsvater der KV Sachsen!

Dr. Hommel: Das stimmt schon. Als bereits zu DDR-Zeiten niedergelassener Orthopäde war ich damals (und bin es auch noch heute) überzeugt, dass Arztdasein und Freiberuflichkeit zusammengehören. Die Etablierung einer Ärzteschaft in eigener Niederlassung in einer bisher von Staatsmedizin geprägten Versorgungslandschaft war nicht nur ein großes, sondern auch ein erfüllendes Vorhaben. Die Gründung der KV Sachsen als eingetragener Verein zum 7. Juli 1990 bzw. die Gründung der KV Sachsen als Körperschaft des öffentlichen Rechts zum 1. Juli 1991 ist für mich nicht nur als Arzt eine sehr bewegende Erinnerung.

Dr. Heckemann: Aber Herr Hommel, so emotional kenne ich Sie gar nicht.

Dr. Hommel: Die damalige Aufbruchstimmung war einzigartig und das Gefühl, mitgestalten zu können, war schon etwas Besonderes. Die KV Sachsen wurde auf einem historischen Gelände in Dresden auf die Beine gestellt. In einer eindrucksvollen Villa am Blauen Wunder (spätere Poliklinik Blasewitz) standen zwei Zimmer und wenige Möbel zur Verfügung – übrigens der Wohnsitz des letzten Sächsischen Ministerpräsidenten vor der Nazizeit. Keiner von uns war sich richtig des Umfangs der neuen Aufgaben bewusst. Alles war damals in Bewegung. Zwangsläufig gestaltete sich eine Einflussnahme auf die Rahmenbedingungen der ärztlichen Tätigkeit später dann viel schwieriger. Aber wem sage ich das …

Dr. Heckemann: Eine bemerkenswert präzise Einschätzung. Wir haben in den 30 Jahren KV Sachsen vier Ministerpräsidenten und 14 zuständige Sozial- bzw. Gesundheitsminister erlebt. Nicht alle waren der KV zugetan und mancher hat sich geweigert, die Ärztevertreter überhaupt zu empfangen. Diese Animositäten haben sich erfreulicherweise in den letzten Jahren immer mehr verloren, nach dem absoluten Tiefpunkt zu Zeiten Ulla Schmidts.

Dr. Hommel: Erinnern Sie mich nicht an diese Person! Diese Bundesgesundheitsministerin hat es geschafft, die Ärzte so zu verärgern, dass sie auf die Straße gingen, aber man glaubte damals ja noch, einer Ärzteschwemme ausgeliefert zu sein. Deshalb waren die Reaktionen der Bundespolitik eher „zurückhaltend“.

Dr. Heckemann: Richtig! Schon damals haben Sie aber darauf aufmerksam gemacht, dass die Altersstruktur der Ärzteschaft und der Bevölkerung und die unzureichende Ausbildung von ausreichend ärztlichem Nachwuchs das Blatt bald wenden werden. Das Wido-Institut der AOK hat noch im Jahre 2003 in einer umfangreichen Publikation „wissenschaftlich“ vorgerechnet, wie viele Ärzte es zu viel gibt.

Dr. Hommel: Ja, leider hatten selbst die „Berufsexperten“ die Zeichen der Zeit nicht erkannt oder sie sogar vollkommen verkannt. Überalterte Bevölkerung und überalterte Ärzteschaft schienen doch zu gut zusammen zu passen. Wollte Karlchen Lauterbach in der gesundheitspolitischen Hochkultur von Ulla Schmidt nicht auch 2003 die „doppelte Facharztschiene“ abschaffen?

Dr. Heckemann: Ja, wörtlich: „Der größte Einzelposten, an dem wir sparen können, ist die doppelte Facharztschiene. Das System würde bis zehn Milliarden billiger sein mittelfristig, wenn man es richtig umsetzt … Das ist eine sehr teure und auch für die Patienten nicht ungefährliche Struktur, die im Ausland überwunden ist. Dagegen wehren sich in Deutschland die Kassenärztlichen Vereinigungen.“ Also, wenn das keine Unwägbarkeiten in Bezug auf die Berufsaussichten der fachärztlichen Kollegen waren.

Dr. Hommel: Lieber Herr Heckemann, gab es während Ihrer bisherigen Tätigkeit eigentlich auch wirklich Erfolgreiches?

Dr. Heckemann: Eine beinahe despektierliche Frage. Da könnte ich kontern: Haben wir nicht auch einen Beitrag geleistet zum Erhalt der „doppelten Facharztschiene“? Sie haben aber schon Recht: Bisweilen lässt die Tätigkeit als KV-Chef Assoziationen zu den Windmühlen von Don Quichotte oder dem Stein von Sisyphos aufkommen. Zumindest bleibt unser Anteil an der erfolgreichen Abwehr von gesundheitspolitischen Abstrusitäten. Voraussetzung ist aber, dass Ärzte und ärztliche Interessenvertretungen am gleichen Strang ziehen und zusammenwirken. Leider sind die Interessenlagen selbst unter Ärzten bisweilen recht different.

Dr. Hommel: Nun, da sind wir in Sachsen doch wirklich gut dran, wenn man beispielsweise das insgesamt recht gute Verhältnis zwischen Hausärzten und Fachärzten bedenkt. So viel Vernunft findet man nicht überall in der Bundesrepublik.

Dr. Heckemann: Das klingt fast so, als hätten Sie daran maßgeblichen Anteil.

Dr. Hommel: Das sei mal dahingestellt. Aber Herr Heckemann: Selbst wir beide haben Gemeinsamkeiten! Eine davon dürfte sein, dass wir die Gefahren einer Klientelpolitik erkannt und versucht haben, diese zu bannen. Also ich habe mich als Orthopäde immer als Kassen- oder eben Vertragsarzt gefühlt und nicht vordergründig als Facharzt. Und Sie kehren den Hausarzt ja nun auch nicht ständig heraus. Wenn die eigene Berufsgruppe vor dem Sozialgericht klagte, musste man sich mit seinem „Pro oder Contra“ eben zurückhalten.

Dr. Heckemann: Anders macht es ja auch überhaupt keinen Sinn. Divide et impera funktioniert nun mal leider sehr gut. Selbst bei den Hausärzten könnte man doch verschiedene Interessenlagen detektieren und die jeweiligen Gruppen gegeneinander in Stellung bringen, zuerst würde sich vielleicht ein Stadt-/Landarzt-Konflikt anbieten. Wenn die niedergelassenen Ärzte sich nicht als Solidargemeinschaft verstehen, stehen wir irgendwann als Einzelkämpfer da.

Dr. Hommel: Wenn Sie die ärztliche Solidargemeinschaft gerade ansprechen: So schlimm die Hochwasserkatastrophe 2002 auch war, so bewegend waren die Hilfsaktionen zugunsten der Betroffenen. Können Sie sich noch entsinnen an die Spendenaktion unserer KV zugunsten der Kollegen, denen das Wasser nicht nur nach dem Wortsinn bis zum Hals stand?

Dr. Heckemann: Solche Katastrophen und Emotionen vergisst man nicht. Quasi von einem zum anderen Tag wurde aus der Vertragsärzteschaft eine Schicksalsgemeinschaft, die füreinander eintritt. Die Hilfsbereitschaft unter den Ärzten tat den Betroffenen ja nicht nur finanziell gut, sondern auch mental.

Dr. Hommel: Stand Ihnen das Wasser auch schon mal bis zum Hals, verehrter Herr Kollege Heckemann?

Dr. Heckemann: Sie immer mit Ihren launigen Fragen. Wie habe ich die Zeit als Ihr Stellvertreter bloß überstanden? Aber im Ernst: Dass das Fahrwasser bisweilen etwas rau ist, ist nicht ungewöhnlich, ein Fall für die Seenotrettung war die KV Sachsen aber noch nie. Um das Kurshalten unserer Körperschaft sorgen sich ja nicht nur der Vorstand, sondern mindestens ebenso die gewählten ärztlichen Vertreter einschließlich ihres Hauptausschusses sowie zahlreiche sonstige ehrenamtlich tätige Kollegen.

Dr. Hommel: Ich insistiere bewusst: Was lief mal richtig schief?

Dr. Heckemann: Als sehr misslich empfunden habe ich unser Scheitern in Bezug auf die Anpassung der Gesamtvergütung an die in Sachsen vorhandene Morbidität. Nach sehr zähen Kassenverhandlungen und der Anrufung des Landesschiedsamts erging im Frühjahr 2013 eine Entscheidung zu unseren Gunsten, indem die aus der demografischen Situation in Sachsen resultierende besondere Morbiditätsstruktur grundsätzlich anerkannt und der Finanzierung des Mehrbedarfs anteilig Rechnung getragen wurde. Um sieben Prozent wurden als Folge die Mittel zur morbiditätsbezogenen Gesamtvergütung für 2013 gegenüber dem Vorjahr angehoben – ein richtiges und wichtiges Signal für die vertragsärztliche Versorgung in unserem Bundesland.

Dr. Hommel: Klingt nicht nach „schieflaufen“…

Dr. Heckemann: Das dicke Ende kam ja noch: 2014 hat das Bundessozialgericht – trotz der klaren dortigen Erkenntnis, dass, so wie vorgeschrieben, niemals „Westniveau“ erreichbar ist – dann entschieden, dass die Gesamtvergütung auch nach der Rechtslage
des Jahres 2013 jeweils für das Folgejahr auf der Basis der für das Vorjahr vereinbarten Gesamtvergütung zu vereinbaren ist und sich an den gegenüber dem Vorjahr eingetretenen Veränderungen zu orientieren hat.

Dr. Hommel: Und das haben Sie so hingenommen?

Dr. Heckemann: Da sehen Sie mal. So einfach wie zu Ihren Zeiten ist es nicht mehr mit der Aushandlung der Gesamtvergütungsmittel. Sie hatten es gut: Kopfpauschalen mal Anzahl der Kassenmitglieder – und das war’s. Da wir die erhöhten Mittel bereits erhalten hatten, mussten wir den Kassen dann erhebliche Gelder zurückzahlen, natürlich mit Folgen für die Fallwerte … Zum Glück gehört dieses Kapitel mittlerweile der Vergangenheit an.

Dr. Hommel: Eine ganz schöne Pleite also.

Dr. Heckemann: Sie sagen es. Leider müssen wir in unserer Funktion aber immer einen rationalen Blick auf die Machtverhältnisse behalten. Dies nicht zuletzt, um solche Desaster wie das misslungene Hoppenthallersche Ausstiegsszenario in Nürnberg vom 30. Januar 2008 zu vermeiden.

Aber nun zu Ihnen, lieber Herr Hommel: Was war Ihr größter Fehlgriff?

Dr. Hommel: Mein erster Stellvertreter, der wegen nachgewiesener Stasi-Tätigkeit seinen Hut nehmen musste. Nun gestatten Sie mir die Frage: Gibt es auch etwas, worauf Sie stolz sind?

Dr. Heckemann: Privat oder dienstlich?

Dr. Hommel: Das ist hier kein Kaffeekränzchen.

Dr. Heckemann: Dann eben dienstlich. Stolz ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber die Fortentwicklung der Bedarfsplanung dergestalt, dass der von mir vorgeschlagene Demografiefaktor in die Bedarfsplanungsrichtlinie aufgenommen wurde, hat mich schon gefreut, denn das Alter der Bevölkerung muss bei der Bemessung des Bedarfs an Ärzten unbedingt Berücksichtigung finden.

Dr. Hommel: Aber auch Ihr Projekt „Studieren in Europa – Zukunft in Sachsen“, bei dem Sie geeignete Kandidaten in Ungarn studieren lassen, damit diese später die Reihen der sächsischen Vertragsärzte stärken, könnten Sie doch als Erfolg verbuchen, angesichts des Mangels an ärztlichem Nachwuchs und der Überzeugung, dass die KV nichts unversucht lassen sollte, diesem entgegenzuwirken – selbst mit ungewöhnlichen Konzepten.

Dr. Heckemann: Danke. Schließlich haben Sie, da Sie immer noch an fast jeder Vorstandssitzung teilgenommen haben, sich ja auch bisher hier teilweise ein wenig „dumm“ gestellt.

Dr. Hommel: Nun ja, ohne ein wenig „dummstellen“ hätte auch unser Gespräch so nicht funktioniert.

Dr. Heckemann: So, geschätzter Herr Hommel, ich denke, jetzt reicht es mit dem Blick in die Vergangenheit.

Dr. Hommel: Altersbedingt reicht mein Blick zwar weiter zurück. Ich bin aber dennoch Ihrer Meinung. Wie sehen Sie die Zukunft – in Kurzversion bitte.

Dr. Heckemann: Ohne (möglichst viele selbstständige) Haus-, Fachärzte und Psychotherapeuten in Stadt und Land wird es auch zukünftig nicht gehen. Ohne die KV Sachsen angesichts deren zahlreicher Aufgaben und der immer komplizierter werdenden ärztlichen Arbeitsbedingungen auch nicht. Und diese muss sich arrangieren (selbstverständlich ohne jemals grundlegende Positionen aufzugeben) und besser noch kooperieren mit den anderen Akteuren im Gesundheitswesen – dem Sozialministerium, den Kassen und natürlich der Landesärztekammer. In den letzten Jahren haben sich die Aufgabenbereiche zwischen Landesärztekammer und KV stärker herauskristallisiert. So hat sich die Zusammenarbeit besonders mit der neueren Kammerführung wesentlich verbessert.

Dr. Hommel: Keine Visionen?

Dr. Heckemann: Nun, vielleicht werden die zu erwartenden finanziell schwierigeren Zeiten ein Umdenken in der Politik bezüglich meiner erwähnten, wenig populistischen, Vorstellungen einer finanziellen Eigenbeteiligung (zumindest erst einmal bei der Inanspruchnahme des Notdienstes) bringen. Ansonsten halte ich es mit Helmut Schmidt: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Damit schließt sich dann auch der Kreis.

Dr. Hommel: Und wir können übrigens stolz sein: In der heutigen Zeit auf vier Seiten nicht einmal das C-Wort verwendet!