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Freiberuflichkeit und Therapiefreiheit in Zeiten der Coronapandemie

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

als die Meldung des ersten in Deutschland positiv auf SARS-CoV-2 getesteten Patienten am 27. Januar 2020 aus dem Münchener Tropeninstitut die Öffentlichkeit erreichte, haben die wenigsten Deutschen glauben können, dass ihr Leben sich noch Ostern 2021 im Zustand einer Hängepartie mit ungewissem Ende befinden könnte. Nahezu alle Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens sind mit krass veränderten Rahmenbedingungen konfrontiert worden und unterlagen dem Zwang der Anpassung an ungewollte Einschränkungen von ungewisser Dauer.

Im Sektor der medizinischen Berufe verschoben sich die Schwerpunkte der Tätigkeit sowohl im stationären wie ambulanten Bereich zunehmend auf diagnostische, therapeutische und sozialhygienische Maßnahmen mit dem Ziel der rascheren Eindämmung der Pandemie. Da das Coronavirus zunächst schleichend und nicht ganz ernst genommen firmieren konnte, geriet die Gesellschaft beinahe unbemerkt in immer schwierigeres Fahrwasser, bis man schließlich konstatieren musste, dass unsere scheinbar sichere Basis eines krisenfesten Gesundheitssystems zu bröckeln begann und für unüberwindbar gehaltene Dämme zu brechen drohten. In der Manier eines Diktators hat das Virus Vasallen in Form von Mutanten und Coronaleugnern rekrutiert und von Welle zu Welle den seelischen und physischen Druck auf die Menschen stetig erhöht. Mit den ausbremsenden Effekten auf Wirtschaft, Kultur, Sport und regenerative Freizeitgestaltung sind individuelle Freiräume immer mehr reduziert worden – mit der Folge der Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Diese kurz skizzierten Entwicklungen haben bei einigen Kollegen zur Sorge vor dem Verlust von gewohnten beruflichen Freiheiten geführt und Ängste geschürt. Bezüglich der freiberuflichen Tätigkeit liegt allerdings mitunter ein falsches Begriffsverständnis vor. Die Bezeichnung stammt aus dem deutschen Einkommenssteuergesetz und umfasst sogenannte Katalogberufe, die bei selbständig ausgeführter Tätigkeit nicht der Gewerbesteuerpflicht unterliegen. Neben den Heilberufen gehören Berufe mit wissenschaftlicher, künstlerischer, unterrichtender und erzieherischer Tätigkeit zu den freien Berufen. Insofern ist die Freiberuflichkeit des niedergelassenen Arztes durch keine gesundheitliche Katastrophe gefährdet, kann aber jederzeit durch den Wechsel in eine Anstellung beendet werden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Freiberuflern ist durch die Installation des Corona-Rettungsschirms die Existenzsicherung besser für die Vertragsärzte und Psychotherapeuten geregelt als für die Allgemeinheit. Von den Länder-KVen eingefordert und der KBV im Ministerium verhandelt, ist das auch ein Zugeständnis an die Systemrelevanz der niedergelassenen Ärzte angesichts des Engagements und Aufwandes – und nicht als Geschenk zu werten.

Wesentlich diffiziler ist die Bewertung der coronabedingten Auswirkungen auf die Therapiefreiheit, einem anerkannten Grundsatz in der medizinischen Behandlung, demzufolge ein Arzt oder Psychotherapeut aufgrund seiner Kompetenz grundsätzlich die freie Wahl beim Vorschlagen der von ihm favorisierten Behandlungsmethode hat. Dabei gibt es je nach konkreter Situation einen mehr oder weniger großen Ermessensspielraum, der sich aber innerhalb des naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes befinden sollte. Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung sind das Wirtschaftlichkeitsgebot und die Leitlinien der evidenzbasierten Medizin zu beachten. Soweit so bekannt die Theorie vor Corona. Unter den sich ständig ändernden Bedingungen der überaus dynamischen Pandemie hat der niedergelassene
Arzt keine erprobten und eingeübten Strategien zur Hand und die Freiheit in der Auswahl wird eher als Belastung empfunden. Durch Internet und soziale Medien entwickelt sich eine skurrile Situation: Alle wissen alles, doch keiner weiß Bescheid! Die unterschiedlichen Statements der Virologen, wissenschaftlich durchaus üblich und im Sinne eines nach Lösungen suchenden Meinungsstreits sogar förderlich, führen öffentlich ausgetragen beim Laien zu Verwirrung, so dass das Fachgebiet von manchem als „Wirrologie“ empfunden wird. In dieser Gemengelage suchen die Bürger als Patienten Beratung und Führung bei den Ärzten ihres Vertrauens. Diese wiederum suchen vergeblich nach rechtssicheren, nicht beklagbaren diagnostischen und therapeutischen Pfaden und müssen feststellen, dass es diese in Krisenzeiten, verursacht durch eine bisher unbekannte Herausforderung, nicht als Blaupause gibt. Die Freiheit, eine Auswahl unter pragmatischen, nicht validierten Methoden zu treffen, erweist sich manchmal als Bumerang, weil sie eine Verantwortung impliziert, die nicht alle Kolleginnen und Kollegen guten Gewissens tragen möchten.

In den Bezirksgeschäftsstellen treffen seit Beginn der Pandemie immer wieder Beschwerden von Patienten über Kollegen ein, die nach Meinung der Betroffenen im Rahmen einer Diagnostik oder Therapie im Zusammenhang mit Covid-19 nicht die Erwartungen der Hilfesuchenden erfüllt hätten. Oft kristallisiert sich im Nachhinein heraus, dass Mängel in der Kommunikation mit fehlender Auflösung des Widerspruchs zwischen Erwartungshaltung auf der einen und praktikabel Machbarem auf der anderen Seite die wesentliche Rolle gespielt haben. Auch bei bestem Wollen und geduldigem Aufklären ist es natürlich nicht immer machbar, vollkommenes Einverständnis zu erzielen. In solchen Fällen müssen wir akzeptieren, dass auch die Patienten die Freiheit haben, ein Behandlungsangebot auszuschlagen. Meist ist es dann schwer zu ertragen, wenn die Nichterfüllung eines unrealistischen Patientenwunsches als unterlassene Hilfeleistung interpretiert und per Beschwerde moniert wird. Nicht zufällig hat der Vorstand unserer KV Sachsen mehrfach die Thematik aufgegriffen, dass die ärztliche Tätigkeit während der Pandemie teilweise zur Nagelprobe geworden ist und hinterfragt, ob wir den Beruf mit allen Facetten, Gefährdungen und Unwägbarkeiten als Berufung leben wollen oder eher als Schönwetterjob zu interpretieren versuchen. Damit möchte ich keinesfalls ältere und selbst gesundheitlich belastete Kollegen mit Zugehörigkeit zur Risikogruppe in ihrer Sorge diskreditieren, sondern alle motivieren, über das berufliche Selbstverständnis nachzudenken und nach geeigneter Teilhabe an der Bekämpfung der Pandemie als Solidarbeitrag innerhalb der Berufsgruppe selbstbewusst und zuversichtlich Ausschau zu halten.

Im Hegelschen Sinne ist Freiheit die nicht aus Zwang, sondern eigenem Denken und Fühlen gewonnene Einsicht in Notwendigkeiten. Die Not, die es in heutiger Zeit zu wenden gilt, hat viele Gesichter und Facetten. Als Ärzteschaft sollten wir die im gesundheitlichen Bereich Notleidenden dort abholen, wo sie uns erwarten: Beim Testen, Impfen, im Pflegeheim, beim Hausbesuch, in der Portalpraxis, dem Fahrdienst und natürlich unseren coronagerecht umstrukturierten Praxen. Selbst wenn mancher Arzt sich nicht mit allen Elementen der Coronaschutzverordnungen identifizieren kann und die eine oder andere Durchführungsbestimmung Kopfschütteln verursacht, wäre es mein Wunsch, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten, sondern möglichst viele der gesellschaftlich konsentierten Bausteine der Pandemiebekämpfung beizusteuern. Das dürfen je nach Fachrichtung und dem individuellen Freiheitsgrad sehr unterschiedliche Bausteine sein. In der Summe könnten sie ein Mosaik ergeben, bei dessen Betrachtung sowohl Patient als auch Arzt Frieden finden und Hoffnung tanken können.

Um es abschließend nochmals auf den Punkt zu bringen: Für mich bedeutet Therapiefreiheit in Bezug auf Coronapatienten die Abkehr von starren bürokratischen Zwängen, ohne in chaotisches Handeln abzudriften. Unter Benutzung des viel zitierten gesunden Menschenverstandes können kreative, individuelle und damit humane Behandlungsstrategien zur Anwendung kommen, wie es beispielhaft die von den KVen Sachsen und Thüringen vorgeschlagene ambulante Covid-19-Therapie in stationären Pflegeeinrichtungen ist. Teile von Politik und Presse, die das Wahrheitsmonopol als natürlichen Besitzstand betrachten, haben diese als heimliche Triagierung diffamiert und somit ängstliche Kollegen möglicherweise daran gehindert, diese Option umzusetzen.

Natürlich bedeutet Therapiefreiheit auch, auf eine Behandlungsoption zu verzichten. Diese ist in besonderem Maße relevant bei der Entscheidung zu Einweisungen zur Maximaltherapie. Dort wo es derzeit keine rechtsverbindlichen Leitlinien gibt, beginnt die sinnvoll auszufüllende Freiheit zu pragmatischem Handeln. Den Mut dazu traue ich Ihnen zu!

Ich wünsche Ihnen und Ihren Praxisteams angesichts des Frühjahrs Elan, Zuversicht und gutes Gelingen!

 

Ihr Johannes-Georg Schulz