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„Ich sehe viele Tränen“

Mehr als die Hälfte der aktuell auf den deutschen Intensivstationen liegenden Covid-19-Patienten wird beatmet. Oft sind es hochbetagte Menschen mit Vorerkrankungen. Dieses Vorgehen kritisiert der Palliativmediziner und Buchautor Matthias Thöns (Witten). Er betreut infizierte Erkrankte in ihren letzten Tagen und fordert ein Umdenken sowie die Aktualisierung der Patientenverfügungen. Ein Debattenbeitrag.

Kürzlich rief mich die Tochter eines schwer an Demenz erkrankten 88-jährigen Covid-Patienten in ein Pflegeheim. Sie wollte im Sinne ihres Vaters auf keinen Fall, dass er in eine Klinik eingewiesen wird. Als ich eintraf, war der Patient aber bereits vom Rettungsdienst abgeholt worden, die betreuende Schwester hatte den Notruf gewählt. Er wurde in eine Klinik gebracht, dort intubiert und verstarb kurze Zeit später am Beatmungsapparat. Die Tochter durfte sich nicht mehr verabschieden. Das hat sie traumatisiert. Ich sehe bei meiner Tätigkeit jeden Tag viele Tränen fließen.

Nach der Beatmung drohen Folgekrankheiten

Aktuell sind es fast 60 Prozent der Intensivpatienten, die invasiv – also mit einem Schlauch durch den Mund oder den Hals – beatmet werden. Ich halte das für äußerst problematisch. Covid ist im Wesentlichen eine bedrohliche Erkrankung des hochbetagten Menschen, in Deutschland betreffen 64 Prozent der Todesfälle die Gruppe der über 80-Jährigen. Etwa die Hälfte der fatalen Fälle ereignet sich im Pflegeheim, jeder Dritte stirbt trotz Behandlung. Im Schnitt werden die Menschen bei Beatmung 18 Tage leidvolle Apparatemedizin erdulden müssen. Bei vier von fünf dieser Sterbefälle lagen weitere schwere Begleiterkrankungen vor. Schwer betroffen sind also im Wesentlichen Patienten mit lebensbegrenzenden Erkrankungen, im weiteren Sinne Palliativpatienten.

Für gewöhnlich galt bislang bei solchen Patienten, dass es keine gute Medizin ist, eine Beatmung anzustreben, zumeist war sie auch unerwünscht. Für Menschen über 80 liegt die Sterblichkeit, wenn Beatmung notwendig ist, sogar bei über 70 Prozent. Den wenigen Überlebenden droht eine massive Folgekrankheitslast, erhebliche Zunahme der Behinderung und eine lange leidvolle Intensivtherapie. Das lehnen die meisten älteren Menschen Untersuchungen zufolge für sich ab. Sie würden ein palliatives Konzept vor Ort wählen.

Eine Beatmung kostet 38.500 Euro

Es gibt leider massive finanzielle Anreize zu einer Beatmungstherapie. So berichtet die Allgemeine Ortskrankenkasse „AOK“ von ihren Versicherten, dass diejenigen, die nicht beatmet werden, im Schnitt 5.000 Euro kosten, die jedoch, die beatmet werden, kosten 38.500 Euro. Das könnte ein Grund dafür sein, dass – entgegen der Covid-Leitlinien, die eine Gruppe von anerkannten Intensivmedizinern erarbeitet hat – bei über 80 Prozent der Betroffenen mit Atemproblemen direkt eine invasive Beatmung eingeleitet wird. Die Leitlinie empfiehlt dagegen vorher das Ausreizen mehrerer weniger belastender Verfahren. Das dürfte bei einer Vielzahl schwer betroffener Patienten auch der Grund sein, weshalb Intensivkapazitäten trotz einer sehr hohen Vorhaltung in Deutschland regional nicht reichen.

Es kann auch wieder gut werden

Die Entscheidung gegen eine Intensivtherapie oder eine Klinikeinweisung ist mitnichten eine Entscheidung zum Therapieverzicht, sondern die Stärkung einer nichtinvasiven Behandlung. Viele Patienten überleben bei einfacher Sauerstoffgabe, sie profitieren von Kortison und einem häufigen Schlafen auf dem Bauch. Das kann lange gutgehen und am Ende sogar auch wieder gut werden. Nur wenn das auch nicht reicht und Atemnot dazukommt, können bestimmte Medikamente die Atemnot sicher lindern. Unsere Erfahrung mit nunmehr vielen Covid-Sterbefällen ist, dass die meisten recht leidlos im Schlaf sterben. Nur eine Minderheit von etwa zehn bis 20 Prozent leidet unter Atemnot, die aber gut zu lindern ist.

Leben um jeden Preis?

Jeder sollte sich Gedanken machen, welche Art der Behandlung er sich im Notfall wünscht: Wenn ich mich dazu entscheide, im Fall der Fälle nicht beatmet werden zu wollen, geht das mit einer Notfallpatientenverfügung und der entsprechenden Information des Vorsorgebevollmächtigten – es braucht also eine Vorsorgevollmacht und eine Notfallpatientenverfügung. Vor allem braucht es jetzt aber dringend Gespräche mit den pflegebedürftigen Eltern, mit Heimbewohnern, Vielfacherkrankten und Hochbetagten: Wie viel Medizin akzeptiere ich? Was ist mir wichtiger – Leben um jeden Preis? Lebensqualität auch mit dem Risiko eines kürzeren Lebens? Wichtig ist sicherlich auch, sich zu fragen: Möchte ich diese schwierige Entscheidung wirklich meinen Kindern aufbürden und sie damit ewig belasten, oder sollte ich das nicht jetzt und heute selber erledigen?

Sicher ist: Es kann in einer Situation, in der es eine viel zu große Zahl an Schwerstkranken gibt, die man alle beatmen könnte, nie ausreichend Betten geben. Selbst in einer Gesellschaft wie Deutschland, die viermal so viele Intensivbetten pro Kopf hat wie andere Länder in Europa. Man kann sich selber denken, was wohl passiert, wenn schwerstkranke hochbetagte Menschen mit dem Rettungsdienst zuhauf eingeliefert werden. Wann wird der Arzt wohl das einvernehmliche Gespräch mit der Familie suchen, ob Beatmung gewünscht wird? Wenn auf seiner Station Betten leer stehen und ein Verwaltungsdirektor Druck macht auf Bettenauslastung? Oder wenn es keine freien Betten gibt?

Haben wir verlernt, Dinge in Gottes Hand zu legen?

Das Sterben unter Covid berührt mich als evangelischer Christ sehr. Glauben wir wirklich, den Tod am Ende eines langen Lebens trotz schwerer Erkrankung verdrängen zu können? Haben wir verlernt, das Sterben zu sehen und zu akzeptieren? Haben wir verlernt, Dinge in Gottes Hand zu legen und irgendwann gut sein zu lassen? Ich blicke auf schlimme Grippewellen zurück, die auch eine Vielzahl meiner Patienten nicht überlebte. Wir haben nach Therapiezielen gefragt und das oft akzeptiert. Wir haben die liebevolle Sterbebegleitung in den Fokus gerückt. Früher nannte man die Lungenentzündung am Ende des Lebens „den Freund des alten Menschen“ – heute ist sie eine Diagnose, der Anfang eines leidvollen Kampfes und leider oftmals der Abschied für immer an der Tür des Rettungswagens.

Das Covid-Palliativkonzept

Mitte Januar hatten in dem abgetrennten Covid-Bereich eines nahe gelegenen Pflegeheimes zwei schwerst demenzbetroffene Patienten Fieber. Sie sind 87 und 92 Jahre alt. Der Wunsch der beiden war bekannt: „Bloß keine Klinik mehr.“ Trotzdem rief die diensthabende Schwester den ärztlichen Notdienst. Die Kollegin stellte Bewusstseinsstörungen und Atemstörungen fest, schrieb eine Einweisung und rief den Rettungsdienst. Aber dieses Mal ist es anders gelaufen, jedoch nur aufgrund des vor Ort tätigen Rettungsdienstpersonals, das das Palliativnetz-Witten e.V. auf dem Handy anrief. Der Palliativarzt kam, telefonierte mit der Familie, die eine Klinikeinweisung rigoros ablehnte. Er setzte Morphin an, linderte Angst, verwies auf die Palliativstrategie. Beide Patienten verblieben im Heim. Sie leben noch. Auch das gibt es.

Informationen

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– Der Beitrag erschien zuerst im evangelischen Wochenmagazin IDEA, Nachdruck aus Heft 5/2021 –