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Corona: Weck- oder Kassandra-Ruf?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

verstehen wir, versteht die Politik die „Zeichen“?

Um es vorweg zu sagen – zwar bin ich kein Politiker, der die Last der Verantwortung und die der Entscheidungen zu tragen hat, und darüber bin ich froh – aber es drängen sich mir Fragen auf, und ich glaube, mit diesen stehe ich nicht allein.

Manchmal habe ich das Gefühl, einige offizielle oder gezielt halboffizielle Verlautbarungen zielen im Kern auf das Erzeugen eines kollektiven Gefühls, als befänden wir uns im Krieg. Und alle Entscheidungen, die die Exekutive trifft, seien deshalb alternativlos. Dabei ist es ein Trauerspiel, jedesmal den Hickhack und den „Politbasar“ bei den Abstimmungen zwischen Bund und Ländern zu erleben. Dies schadet der Glaubwürdigkeit der Politiker und nährt auch beim Gehorsamwilligsten Zweifel, ob die derzeitigen Entscheidungsstrukturen noch zeitgemäß sind.

Natürlich sind wir in einer schweren Krise, und selbstverständlich muss als erstes die Exekutive sofort und konsequent handeln. Doch wir haben diesen Zustand nicht seit ein paar Tagen, sondern schon ein Jahr. Wo bleibt die Legislative, wo ist die Stunde der Parlamente? Wo sind die Diskussionen, jenseits von Inzidenzen und tagespolitischen Effekthaschereien? Wie wollen wir gesamtgesellschaftlich mit dieser Pandemie und möglichen weiteren Pandemien umgehen?

Ich vermisse die gewollte und institutionalisierte gesamtgesellschaftliche Diskussion! – und nicht nur die von Politikern und ausgewählten Wissenschaftlern sowie teils sehr durchsichtigen, dünnbrettbohrenden, manipulierenden Meinungsmachern.

Unlängst – nicht in Sachsen! – wurde ein Ethikprofessor aus dem Ethikrat eines Freistaates von einem Ministerpräsidenten abberufen, nur weil die Meinung des Wissenschaftlers vom Mainstream abweichend und offenbar nicht genehm war. Das ist Politik nach Gutsherrenart. Sie behindert den konstruktiven Diskurs und zerstört auch Vertrauen.

Mich stört dieses „Augen zu und durch“. Schwach sind doch im Kern diejenigen, welche die Diskussionen über den Umgang mit dieser Krise subtil oder offensichtlich behindern und natürlich derartige Absichten als absurd von sich weisen würden. Auch das ist Ausgrenzung!

Selbstverständlich brauchen wir klare Handlungen der Exekutive in der konkreten Lage, dies aber bitte mit einheitlichen Kriterien, die dann sehr wohl bundeseinheitlich angewendet werden und dabei natürlich zu unterschiedlichen Konsequenzen entsprechend den regionalen Gegebenheiten führen können! Aber eben bitte eine klare Linie! Es muss Perspektiven und damit auch Berechenbarkeit und Hoffnung geben. Wie das mit einer Mauer geendet hat, das wissen wir. Ich befürchte, dass wir uns nun in Inzidenzen einmauern, und das immer enger. Natürlich gibt es das Risiko der neuen Mutationen. Aber dieses Risiko verschwindet doch nicht einfach im Sommer, auch nicht nach der ersten und zweiten Coronaimpfung und etwaiger Durchimmunisierung. Einmal davon abgesehen, dass der größte Teil der Weltbevölkerung wohl kaum in relevanter Zeit gegen Corona geimpft sein wird und wir dann auch wieder betroffen sein dürften, es sei denn, wir machen „dicht“. Das ist sicherlich kein geeigneter Weg, jedenfalls keiner auf Dauer.

Nach dem Schock vor einem Jahr ist in Deutschland sehr vieles richtig gemacht worden, und Fehler sind in solchen Ausnahmesituationen unvermeidbar. Aber wir leben im Jahr eins nach dem Auftreten des Virus. Und noch immer haben wir kein belastbares Konzept, an dem wir uns orientieren können.

Inzidenzen, Erkrankungen, Intensivpatienten und Corona-Tote sind das Eine. Und dies zu berücksichtigen ist auch sehr wichtig. Hier hat die Politik Deutschlands insgesamt gut agiert und Menschen geschützt. Doch es bedarf jetzt eines nationalen Plans, der das Ergebnis eines differenzierten Diskussionsprozesses sein muss, der bitte auch das Andere wie Wirtschaft, Finanzen, Branchensterben, Kultur, Existenzängste, Isolation, Vereinsamung, Wandel im Sozialen ebenso mit berücksichtigt, wie die Thematik der Bedrohung von physischer Gesundheit und Leben. Auch dieses Andere ist überlebenswichtig. Und, nebenbei bemerkt, eine Zero-Covid-Strategie ist unrealistisch.

Es ist die Aufgabe der Parlamente – der gewählten Volksvertreter! – selbst aktiv zu werden und nicht das Übergewicht der Exekutive zu beklagen, wie in ironischer und gleichermaßen blamabler Weise gerade von einem Vorsitzenden einer Bundestagsfraktion bejammert. Der Vorsitzende des Ethikrates musste stehenden Fußes den Herrn an seine ureigenen Aufgaben erinnern, nämlich selbst aktiv zu werden!

Nur die Legislative kann – bei allem Verständnis für die Schwierigkeiten der Exekutive – ein konstruktives Gegengewicht bilden und den gesamtgesellschaftlichen Diskurs befördern, bündeln und in Gesetze gießen, die dann auch die Exekutive binden. Ja, sie muss es tun!

Dazu müssen sich die Damen und Herren Volksvertreter ihrer Verantwortung aber bewusst werden, und zwar jetzt, und die Zeichen der Zeit erkennen und handeln. Wer hätte die Macht dazu, wenn nicht sie?

Alles andere wäre Versagen.

 

Ihr Stefan Windau