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KVS-Mitteilungen

KVS-Mitteilungen - Ausgabe 02/2021

Offener Brief an den Bundesgesundheitsminister

                                                                                  Leipzig, den 15. Januar 2021

Sehr geehrter Herr Gesundheitsminister,

da die Regierung scheinbar den Bezug zur Basis verloren hat, möchten wir Ihnen einen Einblick in die Tätigkeit eines niedergelassenen Hausarztes gewähren. Dies sollte Sie zumindest in Ihren Denkprozessen beflügeln, Sie auf den Boden der Tatsachen zurückholen und Sie anregen, übermäßigen und falschen Aktionismus zu vermeiden.

Nach mittlerweile mehrjähriger Tätigkeit in der Niederlassung muss man postulieren, dass die Arbeit in der Niederlassung von zunehmender Bürokratie, falschen Vorstellungen bezüglich Umsetzung politischer Entscheidungen geprägt ist und man somit die Entscheidung, ob der Weg in die Niederlassung eine richtige Entscheidung war, auf dem Prüfstand steht. Und ja, es wurde niemand gezwungen, Kassenarzt zu werden. Im Zeitalter eines Ärztemangels auf dem Land und v. a. einem Missverhältnis von versprochenen und praktikablen Leistungen gegenüber dem Versicherten, besteht hier durchaus Handlungsbedarf. Seitens der Politik wird den Versicherten eine 24-h-Rundumversorgung mit vollem Leistungsumfang versprochen, eine Vergütungsanpassung ist hierbei nicht eingepreist. Die Coronapandemie hat diese Situation bis zum Unerträglichen verschärft.

Ungehindert dessen weicht die Politik jedoch nicht von einer weiteren Digitalisierung ab, die langfristig sicher sinnvoll erscheint, jedoch sollte hierbei berücksichtigt werden, dass ad 1 die Finanzierung geregelt werden muss und nicht zu Lasten der niedergelassenen Ärzte gehen darf. Dabei sind natürlich die monetären Aspekte aber auch die zeitlichen Ressourcen zu berücksichtigen. Ad 2 sollten zunächst die technischen Voraussetzungen, also Infrastruktur geschaffen werden. Wir alle arbeiten am Limit und üben grundsätzlich den Beruf des Arztes, der Patienten behandelt, gerne aus. Mittlerweile bleibt jedoch kaum noch Zeit für die eigentliche Arbeit, da man zunehmend mit Softwarehäusern, Kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenkassen korrespondiert. Dabei geht es schon lange nicht mehr um die Patienten, die im Übrigen in einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem auch nicht mit falschen Versprechungen hinsichtlich der Ihnen zustehenden Leistungen gespeist werden sollten. Letztlich sollte die Versicherung medizinisch notwendige Leistungen bezahlen. Die Realität sieht allerdings durchaus anders aus. Wir diskutieren tagtäglich über sinnvolle Behandlungsmaßnahmen, die Krankenkassen fallen einem dabei stets in den Rücken, so dass ein wirtschaftliches Arbeiten unterminiert wird. Falls Ihrerseits an einer Konkretisierung Interesse besteht, lassen sich durchaus zahlreiche Beispiele anführen.

In der Coronapandemie, die sicher auch für die Politik eine Herausforderung darstellt, wird den niedergelassenen Ärzten dabei jedoch zugemutet, dass Sie sich neben dem medizinischen Engagement auch von der Unversehrtheit des eigenen Körpers verabschieden sollen. So gab es im März natürlich kaum Schutzausrüstung und es war Improvisationstalent gefragt. So haben einige Kollegen z. B. als Alternative zu adäquaten Schutzbrillen Schnorchelmasken online bestellt, damit Sie zumindest scheinbar geschützt waren. Desinfektionsmittel wurden irgendwie angerührt, auch hier war die Schutzfunktion eher eine Illusion.

Auf der anderen Seite wurden den älteren Bürgen jetzt kostenlose FFP2-Masken zur Verfügung gestellt. In der Realität sah dies so aus, dass sich Schlangen vor den Apotheken bildeten, sich Reiserouten von Apotheke zu Apotheke etablierten, neben zwischenzeitlichen Einkäufen des Festmahles (wofür die Bürger ausreichend Geld zur Verfügung zu haben schienen). Vom bürokratischen Aufwand in den Apotheken und Kosten, die letztlich der Steuerzahler bezahlt, ganz abgesehen. Dies zeugt von einem Aktionismus, der völlig an der Realität vorbeigeht.

An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass es trotz mittlerweile über einjähriger Pandemiedauer der Politik nicht gelungen ist, Schutzausrüstung in ausreichendem Maße, ggf. im eigenen Land produzieren zu lassen und verfügbar zu machen. So ist es derzeit nicht oder nur schwer möglich, Handschuhe bestimmter Größen (z. B. die häufige Größe M) über den gängigen Medizinproduktehandel zu bestellen. Für Schutzmasken gibt es Tagestarife (wie an der Börse). Somit stehen uns notwendige Materialien nur sehr eingeschränkt zur Verfügung.

Wenn es darum geht, die nun glücklicherweise vorhandenen Impfungen umzusetzen, bleibt der niedergelassene Arzt, der täglich Kontakt mit dem Virus hat, auf der Strecke. Es wird noch nicht einmal kommuniziert (und das ist erschreckend), wie das Procedere von statten gehen soll. Auch Patienten fragen mittlerweile täglich, wann und wie man geimpft werden kann. Dabei müssen wir darauf verweisen, dass auch wir die Informationen aus der Presse erfahren. Dies ist beschämend.

Die typische deutsche Kleinstaaterei wird somit zum größten Hindernis. Eine Pandemie ist doch ein globales Problem. Hierbei werden klare Regularien von einer zentralen Institution benötigt. Das ist die Aufgabe des Gesundheitsministers, also Ihre.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen fordern zunehmende Bereitschaft von den Niedergelassenen, die jedoch mittlerweile das Limit des Möglichen bereits überschritten haben. Nebenbei erwähnt sind auch wir Arbeitgeber von Mitarbeitern mit schulpflichtigen Kindern, von eigenen Kindern ganz abgesehen, die mittlerweile, dank offenbar einer starken Lehrerlobby, ein ganzes Unterrichtsjahr verloren haben. (Betonung liegt ausdrücklich auf verloren – da auch hier die hochgelobte Digitalisierung bereits an der Basis zum Scheitern verurteilt ist).

Die Situation an den Kliniken und die Stimmungslage ist ähnlich, hier sind mittlerweile zahlreiche Kollegen selbst erkrankt. Es werden Personen geimpft, die aus gesundheitlichen Gründen die zweite Impfung nicht erleben werden, anstatt diese, den noch gesunden Klinikärzten zur Verfügung zu stellen. Dies ist mit einem gesunden Menschenverstand nicht mehr nachvollziehbar.

Da wir uns im Kleinen tagtäglich auf die neuen Gegebenheiten einstellen müssen, kann man dies doch auch von der Politik erwarten. Dabei sind klare Strukturen und klare Regelungen das mindeste, was man erwarten kann und nicht jeden Tag eine neue Entscheidung, die Bagatellen reguliert aber am großen Ganzen vorbeigeht. In der Beurteilung eines Schülers, würde man lesen: „ Es gelang ihm nicht, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden“. Dies ist der Eindruck, den man an der Basis gewinnen kann.

Konzentrieren Sie sich auf wesentliche Aspekte, eine schnelle Umsetzung der Impfungen auch für die niedergelassene Ärzteschaft und deren Personal, damit diese der medizinischen Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung stehen. Es nützt den geimpften Wachkomapatienten und den Pflegeheimbewohnern nicht, wenn sie zwar nicht an Corona erkranken, da sie geimpft sind, aber dafür an allen anderen Erkrankungen versterben, da keine Ärzte mehr einsatzfähig sind. Weitere Forderungen sind eine echte Entbürokratisierung, eine Digitalisierung im Rahmen des Machbaren mit einer Transparenz eines Mehrwertes für Ärzte und Patienten. (Bei fehlender Reaktion Ihrerseits werden insbesondere ältere Kollegen dies vermutlich als Anlass nehmen und Praxen vorzeitig schließen). Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass die Lobby der Softwarehersteller und der „gematik GmbH“ die politischen Entscheidungen beeinflusst.

Wir fordern eine Rückkehr zu einer Medizin der notwendigen, patientenorientierten Versorgung ohne politischen Populismus (auch im Wahljahr) und ohne bürokratische Gängelei.

Es ist der Punkt gekommen, an dem wir sagen müssen, „es reicht“. Wenn in der Politik langsam ein anarchistisches Prinzip herrscht, kann man kaum noch erwarten, dass die „Lemminge“ folgen.

Wir verzichten bewusst auf statistische Erhebungen und Zahlen etc., die sicher Ihre Berater in der Argumentation bereit halten werden, was alles toll gelaufen ist, da hierfür die Zeit für Recherchen fehlt. Eine Rechtfertigung ist auch nicht zielführend. Es geht darum, Klarheit in der Führung zu erlangen und die Menschen, die tagtäglich noch die Stellung halten, nicht weiter zu brüskieren. Eine klare Kommunikation und eine klare Priorisierung sind essentiell.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. med. Astrid Sawistowsky
Fachärztin für Innere Medizin / Endokrinologie / Palliativmedizin, im Namen zahlreicher Berufskollegen