Vom Gewinnen und Verlieren
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
mit Sorge kann man derzeit die Verkehrung der Vorzeichen betrachten – da erklären sich Verlierer zu Siegern, Nichtbetroffene zu Experten, Wölfe zu Schafen und es wird immer schwerer, den eigenen Kompass auf Vernunft und Menschlichkeit zu halten, zumal viele Diskussionen häufig bar jeder Freundlichkeit geführt werden.
Der Gewinn / Vorteil – lateinisch lucrum, daher auch lukrativ – ist begrifflich in der Betriebswirtschaftslehre nicht eindeutig definiert, im Rechnungswesen jedoch schon. Sprachlich kann Gewinn auch mit Profit beschrieben werden, dieses Wort ist den Staatsbürgerunterrichtskundigen unter uns jedoch mit negativer Konnotation verankert. Ein Gewinn entsteht also immer dann, wenn die Aufwendungen geringer als die Erträge sind. Ein Verlust ist ein negativ erwirtschaftetes Ergebnis, eine Forderung, die nicht gedeckt werden kann, der Ausfall eines Einsatzmittels oder das Verlieren von Menschen und Werten.
Dieses Jahr ist ein reichhaltiges Jahr an Verlusten und Gewinnen. Viele von uns sind froh, wenn es ohne weitere Schäden vorbeigeht. Und was haben wir nicht alles verloren:
- unsere Unbeschwertheit – bislang hatte sich doch alles immer relativ schnell fast wie von selbst geklärt, und die Grippesaison war auch spätestens im April vorbei;
- unsere Sicherheit – seit 75 Jahren keinen Krieg im eigenen Land und bis auf verschiedene Naturkatastrophen auch keine längerdauernden katastrophalen Zustände;
- unsere Saturiertheit in beiderlei Bedeutung – der bürgerlichen Zufriedenheit und der Übersättigung ohne geistige Ansprüche – war schon schön, wenn man sich über Probleme anderer oder am besten über jene selbst beklagen konnte – da konnte man ja eh nix ändern;
- und tatsächlich leider auch der eine oder andere seinen pragmatischen Sinn oder gleich den gesunden Menschenverstand.
Zeiten wie diese bringen tatsächlich den ganzen Menschen auch mit seinen negativen Seiten hervor, in all seiner Angst, Wut, Sorge, aber auch in seiner Bequemlichkeit, nichts zu tun, aber die anderen lauthals dafür verantwortlich zu machen, dass es nicht mehr so ist, wie es doch einst so schön war.
Und doch haben wir auch viel gewonnen:
- wahre Freunde, die man nicht per Bussi-Oberflächlichkeit finden kann;
- Tatkraft, einfach loszuarbeiten, ohne zu fragen, was denn der Gewinn sein könnte oder wie hoch der Verlust;
- Dankbarkeit, weil man noch oder wieder gesund ist oder genau die Arbeit hat, die man doch immer haben wollte, und aktiv zu sein, wenn andere es nicht mehr können oder dürfen.
Die Frage, was man als Gewinn und was als Verlust sieht, muss letztendlich jeder mit sich ausmachen. Einfach wird es sicher nicht, aber es gibt doch immer wieder kleine Hilfen im Gedankendschungel und große Gewinne nach schweren Verlusten. Nach dem Tod eines Familienmitgliedes habe ich die folgende Geschichte von einem, der sich sein Studium als Helfer beim Rettungsdienst finanziert – und der in diesem Jahr viele Dinge erlebt und gesehen hat, auf die er gern verzichtet hätte – geschenkt bekommen und darf sie heute mit Ihnen teilen. (Seite 5)
Ich wünsche Ihnen allen Gesundheit, wärmende Gespräche und den passenden Gewinn
Ihre Grit Richter-Huhn
Wenn ich der Tod bin und du das Leben, dann liebe ich es, gegen dich zu verlieren
Der Tag war trocken und kalt. Die Lippen der Menschen zogen sich zusammen und die vielen Schals fusselten vor sich hin. Ein schwüler Sommertag wäre ihm lieber gewesen, schließlich war es da offensichtlicher. Man vergaß zu trinken, übernahm sich und kollabierte am Ende. Doch auch dieser Tag war nur ein weiterer in seiner nicht endenden, immer wiederkehrenden Existenz. Abschiede wurden vergessen, Flüche wurden bereut. Das Vorbeileben war perfekt. Und auch an diesem Tag fuhren Autos, und mancher passte nicht auf.
Er sah den kleinen Jungen noch zwischen geparkten Wagen auf die Straße rennen, man hörte es, doch der Junge war zu klein und sah nichts.
Er beugte sich zu dem verformten, zusammengerollten Körper herunter. „Das war knapp“ sagte der Junge und schaute sich um. Er gab dem Jungen seine knochige Hand und sagte mit seiner leisen Stimme „Es ist besser, wenn wir jetzt auf den Fußweg zurück gehen.“ Der Junge stand auf, nahm ihn bei der Hand und nickte eifrig. „Gehen wir zu Mama?“ rief er freudig, während er mit ihm den Gehweg entlang ging. „Natürlich können wir nochmal zu deiner Mutter gehen, sie ist sicher gleich da“. Die Augen des Jungen wurden größer „Also hat sie mich gefunden?“ Aus der Ferne sah man eine Frau auf die beiden zulaufen, ihr Gang war schnell, wurde zügig und schließlich rannte sie. Fröhlich rief der Kleine „Mama!“ und rannte ihr entgegen. Doch sie sah ihn nicht. Wie auch.
Schluchzend und zitternd umklammerte sie den kleinen Körper. Der kleine Junge rannte zu ihr hin und immer wieder rief er „Mama, was weinst du denn, ich bin doch hier“ und versuchte, sie an ihren Sachen zu ziehen. Doch sie merkte nichts. Der Kleine wurde immer panischer, rief immer lauter, bis er nur noch nach seiner Mama schrie, die inzwischen still auf dem Körper lag. „Mama, warum sagst du denn nichts? Warum sagst du nichts? Bitte sag doch was …, bitte Mama“. Er fing bitterlich an zu weinen und setzte sich neben seine wortlose Mutter.
Das waren die Momente, in denen er seinen Job einfach hasste. Er beugt sich erneut zu dem Jungen und reichte ihm die Hand. „Du hast nicht aufgepasst. Deine Mutter kann dich nicht mehr hören.“ „Aber wann kann sie mich denn wieder hören?“ Der Junge schaut auf den Boden der Straße. Zweifelsohne – wäre es nicht seine Bestimmung – er hätte es gern manchmal einfach gelassen. „Gar nicht mehr.“ „Aber warum?“ Die Stimme des Jungen war nur ein seidener Faden, selbst er musste sich konzentrieren, um ihn zu verstehen. „Weil du nicht mehr aufwachen wirst.“ „Nie mehr wieder?“ „Nein.“ Der Junge schaute auf das Auto mit dem Fahrer, der immer noch hinter dem Lenkrad saß und ins Leere starrte und dann auf seine Mutter, die nun zwischen den Autos auf dem Bordstein saß, genau da, wo er herausgerannt war. Dann schaute er zu ihm auf und fing an zu begreifen. Der Junge griff seine Hand und fragte: „Bin ich jetzt alleine?“ Er antwortete „Nein!“ und ging mit ihm davon.
Er war froh, dass Kinder so einfach und schnell verstanden oder einfach nicht wussten, was geschehen war. Keine Diskussionen, keine Betteleien, keine Angebote der Reinkarnation, keine Verweigerung. Sie gingen einfach mit ihm und waren einsichtig genug, um sich bei ihm nicht unwohl zu fühlen. Es stand jedem frei, sich auf seine Art und Weise, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu verabschieden. Überall, im Radio, im Fernsehen, im Netz diskutierten Menschen, wie sie ihm ein Schnippchen schlagen könnten. Die Diskussion war so frustrierend, weil die Diskutanten regelrecht vor der Antwort standen und er sie ihnen am liebsten ins Gesicht schleudern wollte. Doch sie hörten nichts. Und das würden sie auch nie. Die armen Menschen, je mehr sie es versuchten, umso verzweifelter wurden sie. Nur wenige Ausnahmen waren vollends bereit, sich mit ihm – dem Tod, abzufinden.
Sein nächster Fall war ebenfalls jung. Sie war gerade alt genug, um ohne Schwimmflügel in das tiefe Becken des Spaßbades zu gehen. Doch sie hatte sich überschätzt, der Lärm des Schwimmbades und der Trubel um sie herum ließen sie in Panik geraten und untergehen. Immer wieder kämpfte sie sich erbittert an die Oberfläche, bettelnd und betend, dass doch jemand helfen möge. Doch es kam niemand. Als sie am Boden des Beckens angekommen war, streckte er schon seine Hand nach ihr, als plötzlich zwei leuchtende Hände nach ihr griffen, sie aus dem Becken zogen und so lange wiederbelebten, bis sie die Augen aufriss. Sie blickte in helle Augen, die in allen Farben strahlten. Das Lächeln ließ jeden im Umkreis aufatmen und für einen kurzen Moment glücklich sein. Sie sagte zu der Kleinen: „Da hab ich Dich aber gerade noch rechtzeitig gefunden.“ Die Kleine starrte sie wortlos an und umarmte sie. „Passt Du beim nächsten Mal besser auf Dich auf?“ Die Kleine nickte schnell. „Bekomm ich noch ein Lächeln, bevor Du wieder zurück in den Trubel gehst?“ Als Reaktion bekam sie ihr Lächeln, das wohl auch seine kalten Knochen erwärmt hätte, wenn es die Regeln der Physik nur irgendwie hergegeben hätten.
Sie drehte sich zu ihm. „Da hab ich dir wohl deinen Job vermiest!“ und grinste ihn an. Er ging auf sie zu und nahm vorsichtig eine ihrer Hände. Es war eins der wenigen Male, wo er etwas von dem spürte, was die Lebenden wohl Wärme nennen würden. Nach einer angenehmen Weile antwortete er: „Deine Augen zu sehen, ist das schönste an der Sache!“ Sie umarmte ihn, sie war die einzige, die das konnte, was den kalten, trockenen Tag so sehr viel schöner für ihn machte. „Ich liebe auch das Nichts in Deinen Augen, warum sonst wäre ich denn da,“ antwortete sie leise. Er löste sich aus ihrem weichen Griff.
„Und ich liebe es, gegen Dich zu verlieren.“
F. H.