Sie befinden sich hier: Startseite » Mitglieder » KVS-Mitteilungen » 2020 » 09/2020 » Standpunkt

Nach Corona ist vor Corona!

Wie ein Virus unser Leben und unsere ärztliche Tätigkeit verändert hat

Wie halten Sie es mit dem Corona-Virus, liebe Kolleginnen und Kollegen?

Ich meine, dass dies eine der Gretchenfragen unserer Zeit ist. Man muss sich positionieren, ob man will oder nicht und selbst die Ignoranten haben es getan, wenngleich auf hilflose Weise.

Gehören Sie zur Avantgarde, die mit geschlossenem Visier und hochgerüstet den Kampf auf Biegen und Brechen sucht oder eher zu denen, die mit offenem Visier und immer dialogbereit in Richtung Waffenstillstand unterwegs sind? Oder aber sind Sie der Typ der friedlichen Koexistenz, der mit „leben und leben lassen“ die Parteien so weit auf Distanz hält, dass sie sich nicht in die Quere kommen?

Ich möchte heute versuchen, die von mir selbst als Hausarzt und als Ärztlicher Leiter im KV-Bezirk Dresden gemachten Erfahrungen so aufzuarbeiten, dass dies als Orientierungshilfe dienen kann.

Zunächst möchte ich eingestehen, dass ich bei den ersten Meldungen aus China über Erkrankungen durch das neuartige Corona-Virus zur Bagatellisierung geneigt hatte und der Hoffnung war, es möge ein regionales Ereignis bleiben. Maximal wäre vielleicht ein Ausmaß wie bei der Vogel- oder Schweinegrippe denkbar. Doch es kam anders.

Als sich die Zahl der Infizierten erhöhte, die Anzahl der betroffenen Länder zunahm und schließlich auch Deutschland im Rahmen der pandemischen Entwicklung zum Handeln gezwungen wurde, vermehrte sich der Druck auf unser Gesundheitssystem und die Sorge der Menschen in den Gesundheitsberufen, nicht ausreichend gewappnet zu sein.

Die Schere zwischen dem, was eigentlich gebraucht würde und dem, was verfügbar war, öffnete sich scheinbar immer schneller, zumal die Expertenempfehlungen oft sehr weit von der Realität entfernt waren. Als ich vor 40 Jahren meine Staatsexamina in Mikrobiologie und den Hygienefächern ablegte, konnte ich mir auch mit größter Fantasie nicht vorstellen, dass Vertreter dieser Wissenschaften im Jahr 2020 am Regierungstisch sitzen und es sogar den Beruf eines Staatsepidemiologen in Europa geben würde. In der medialen Wahrnehmung wissen diese Experten alles und doch wird immer noch der gesucht, der auch wirklich Bescheid weiß. Abgesehen vom Dilemma der inkongruenten Meinungen der Epidemiologen, Virologen und Infektiologen und dem Missverständnis, dass Studien, Hypothesen und Visionen schon Wissenschaft seien, ist nach meiner Erfahrung die Verunsicherung an der Basis auch deshalb so groß, weil wir lieber andere Felder der medizinischen Tätigkeit beackern, uns dort weiterbilden, Zusatzqualifikationen erwerben und damit sattelfest fühlen. Dort, wo wir uns auskennen, gehen wir scheinbar sorglos an die Arbeit, begegnen dem Patienten vorbehaltlos, geben ihm Nähe und Vertrauensvorschuss, verhalten uns entspannt und starten am Ende des Tages mit Zufriedenheit in den regenerativen Feierabend. Die unsichtbare Anwesenheit des Corona-Virus in unserer Umgebung hat diese Harmonie und Balance schwer erschüttert und die reale Gefahr für jeden von uns ist nicht messbar, kaum kalkulierbar und für manchen unerträglich.

Zwar ist Angst kein guter Ratgeber, aber Wegdiskutieren ist auch kein Lösungsansatz. Soll man mit einem Grundpegel von prophylaktisch ausgeschütteten Stresshormonen in den Tag starten, um von keiner unerwarteten Wendung überrascht zu werden? Oder, wie bereits von Kollegen ins Gespräch gebracht, das Genfer Gelöbnis bemühen, um unter Hinweis auf die schützenswerte eigene Gesundheit sich bis zum Ende der Pandemie aus der Versorgung verabschieden, es sei denn, der Staat und die KV können einen 100-prozentigen Infektionsschutz besorgen und garantieren? Zu Recht haben der Vorstand und der Vorsitzende der Vertreterversammlung der KV sowie der Präsident der Sächsischen Landesärztekammer bereits im Corona-Sonderheft der KVS-Mitteilungen deshalb das pragmatische Einbringen nach Abwägung der individuellen Situation von allen Praxen eingefordert. Dabei heißt einfordern nicht Kadavergehorsam, sondern ehrliche ergebnisoffene Prüfung der Situation vor Ort und danach Entscheidung für die materiell und personell machbare Beteiligung am gesellschaftlich konsentierten Projekt Pandemiebekämpfung im Sinne einer positiven, dem Gemeinwesen dienenden Staatsräson.

Selbstverständlich gehört die Bekämpfung einer Pandemie nicht zu den ureigenen Aufgaben einer KV und kein Zulassungsbescheid zur kassenärztlichen Tätigkeit enthält einen diesbezüglichen Passus. Ich nehme auch allen Ärztinnen und Ärzten ab, dass sie sich, ihr Personal und ihre Familien noch nie so bedroht erlebt haben, ungeachtet aller Erfahrungen mit bisherigen Pandemien und anderen besser bekannten Infektionskrankheiten. Ich meine aber, dass ein trotz Einhaltung der bekannten Hygienerichtlinien für Arztpraxen verbleibendes höheres Risiko – als es die Allgemeinheit zu tragen hat – von uns geschultert werden muss. Nach meinem Verständnis ist das unserem Berufsbild immanent, ohne dass man deshalb in die Nachfolge Albert Schweitzers treten muss. Allein, die zu schulternde Last kann jeder für sich eingrenzen, um an der Aufgabenlösung qualifiziert, aber auch motiviert und langfristig mitwirken zu können.

Einige Aspekte möchte ich detailliert ansprechen. Nach anfänglich kontroverser Diskussion über den Nutzen von Masken und Mund-Nasen-Schutz hat der Gesetzgeber inzwischen Regelungen erlassen, die von Bundesländern und Kommunen ausgestaltet wurden und in vielen Bereichen des Lebens eine Maskenpflicht beinhalten. Für die Arztpraxen hat die KV die Umsetzung der Maskenpflicht empfohlen und jeder Praxisinhaber ist für die konkrete Ausgestaltung selbst verantwortlich. Ich möchte an alle Praxen appellieren, den Schutz von Patienten und Personal nicht unter dem Standard eines Supermarktes anzusiedeln, unabhängig von der vielleicht abweichenden Meinungsbildung im Internet und den sozialen Medien. Auch bei den Kriterien zur Befreiung von der Maskenpflicht wäre es wünschenswert, wenn jeder mit Transparenz und Augenmaß vorgeht und Empfehlungen beherzigt, wie sie zum Beispiel der Verband der Pneumologen für die Lungenpatienten entwickelt hat. Die berichteten „Online-Atteste auf Wunsch“ konterkarieren die gesellschaftlichen Anstrengungen um Solidarität, Zusammenhalt und das gemeinsame Tragen vorübergehender Erschwernisse.

Da auch unser Berufsstand einen gesellschaftlichen Querschnitt repräsentiert, ist eine gewisse Polarisierung nahezu unvermeidlich. Für die Bezirksstelle Dresden kann ich berichten, dass wir tendenziell mehr Gesprächsbedarf hatten für Kolleginnen und Kollegen, die sich trotz aller Maßnahmen in einer permanenten Bedrohungslage fühlen und eine Angststörung entwickelt haben als solche, die an der Sinnhaftigkeit der Coronabekämpfung zweifeln. Während sich das Praxisregime für die meisten durch Umbauten, Organisation und Vorhalten ausreichender Schutzausrüstung praktikabel steuern lässt, ist die Teilnahme am kassenärztlichen Fahrdienst beziehungsweise in der Portalpraxis mitunter zu einer unüberwindbaren Hürde geworden, weil die Anforderungen durch das Patientenklientel schwerer kalkulierbar sind und die räumlichen Bedingungen nicht nach eigenen Maßstäben vorgehalten sein könnten.

Im zweiten Quartal 2020 haben fast alle Praxen eine gänzlich neue Erfahrung machen müssen. Coronabedingt kam es durch die Absage von Vorsorge- und Routineterminen sowie das Vermeidungsverhalten von Patienten zu teilweise dramatischen Einbrüchen bei den Fallzahlen, mehr bei den Fachärzten als in den Hausarztpraxen. Auch in meiner Praxis hatten wir ein Minus von acht Prozent zum Vergleichsquartal des Vorjahres zu konstatieren. Zur Gewährleistung der finanziellen Absicherung der Praxen hat die Vertreterversammlung der KV Sachsen sehr zügig einen Not-HVM auf den Weg gebracht und trotzdem treibt viele Kollegen die Sorge um, ob nicht bei längerfristiger Veränderung der Inanspruchnahme ihren Praxen eine nicht beherrschbare Schieflage droht. Bei ausverhandelter Gesamtvergütung pro Kalenderjahr sollten uns für die Verteilung zunächst ausreichende Mittel zur Verfügung stehen. Die Herausforderung liegt in den Folgejahren, für die die Krankenkassen Nullrunden anstreben, und im Bereich der extrabudgetären Vergütung. Die zuverlässige Präsenz der Kassenärzte auch in Zeiten verminderter Nachfrage ist eine wichtige Argumentationskomponente für eine starke Verhandlungsposition gegenüber den Kassen. Also zeigen Sie Flagge!

Seit Beginn der Pandemie haben sich Bundesgesundheitsministerium und nachgeordnet die Länderministerien regelmäßig an die KVen gewandt, wenn es schnell neue Arbeiten zu verteilen gab. Der Draht zu unserer Aufsichtsbehörde, dem Sächsischen Sozialministerium, ist seit Jahren gut, was viele Dinge in der Vergangenheit leichter gemacht hat in unserer Arbeit als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Insofern waren und sind wir an pragmatischen Umsetzungen für die staatlichen Maßnahmen im Rahmen der Corona-Gesetzgebung interessiert und waren dankbar für die vielen Freiwilligen, die sich für Telefonberatung am COVID-19-Telefon, für die Corona-Abstrichzentren und zuletzt die Testcenter an den sächsischen Flughäfen Leipzig und Dresden sowie den Autobahnen A4 und A17 gemeldet haben. Auch hier handelt es sich nicht um originäre KV-Tätigkeiten. Die Option „lieber nichts zu machen, als für 15 Euro pro Test zu arbeiten“ haben wir nicht ernsthaft erwogen.

Bei der momentanen Aufstellung und personellen Besetzung vieler Gesundheitsämter ist es weltfremd, auf deren Zuständigkeit zu verweisen. Immerhin fördert der Freistaat zusätzlich zu 20 Plätzen der KV nun weitere 20 Studienplätze in Pécs auch mit der Option, später im öffentlichen Gesundheitswesen tätig zu werden. Möge die nächste Pandemie so lange warten!

Auch wenn sich möglicherweise bis zum Erscheinen meines Standpunktes auf Grund der Dynamik der epidemiologischen Entwicklung aktuellere Aspekte ergeben sollten, weil das Virus neue Wellen schlägt, bleibt festzuhalten, dass nach einer deutlichen Erschütterung unserer beruflichen Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten eine Konsolidierung eingesetzt hat, mit der Herausforderung, den Prozess proaktiv fortzusetzen. Das kann gelingen, wenn unabhängig von bevorstehenden Wahlen politisch klug und ehrlich entschieden sowie epidemiologisch sauber analysiert und mit einer gemeinsamen Stimme kommuniziert wird. Dann besteht die berechtigte Hoffnung, dass die Bevölkerungsmehrheit und die Akteure im Gesundheitswesen den zweifellos im europäischen Maßstab bisher erfolgreichen Weg der Pandemiebekämpfung fortsetzen.

Von Johann Georg Lichtenberg ist der Spruch überliefert: „Man sollte im Leben nie so viel zu tun haben, dass man zum Nachdenken keine Zeit mehr hat.“ Insofern wünsche ich Ihnen genauso wie den Verantwortungsträgern im Gesundheitswesen Souveränität und etwas mehr Gelassenheit, damit bei aller Eile und dem Drang zur Unverzüglichkeit genügend Raum bleibt für Abwägungen und Ausgewogenheit des Handelns.

Kommen Sie unversehrt durch die Krise!

 

Ihr Johannes-Georg Schulz