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Corona – eine Zwischenbilanz

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

sechs Monate leben wir nun schon mit der weltweiten Corona-Pandemie. Zeit, eine erste Bilanz für uns Ärzte zu ziehen. Auch wenn niemand mit Gewissheit sagen kann, wie es weitergeht, was in einem halben oder einem Jahr sein wird, so können wir hier in Deutschland doch mit Erleichterung, aber auch mit Demut und Dankbarkeit, auf den bisher milden Verlauf blicken.

An diesem Wochenende fand der World Ophthalmological Congress (WOC) unter Leitung des Direktors der Leipziger Augenklinik, Prof. Peter Wiedemann, der erst als zweiter Deutscher die Präsidentschaft des International Council of Ophthalmology (ICO) innehat, statt. Zum ersten Mal musste der Kongress als virtuelles Meeting abgehalten werden, und nicht wie geplant in Kapstadt / Südafrika. Aus der ganzen Welt waren die führenden Expertinnen und Experten zusammengeschaltet und hielten ihre Präsentationen online. Es gab dabei kaum jemanden, sowohl aus den naheliegenden als auch den entferntesten Ländern der Welt, der nicht im Anschluss an den Vortrag wünschte, dass diese Pandemie ein baldiges und gutes Ende für die Menschheit nehmen möge, letztlich auch um sich wieder in Präsenz-Meetings treffen zu können. Allerdings gewinnt man in diesen Tagen zunehmend den Eindruck, dass sich in Deutschland die Stimmen mehren, die die Notwendigkeit der bisherigen Einschränkungen in Frage stellen. Ebenso scheint die Akzeptanz für die getroffenen Maßnahmen abzunehmen.

Warum ist dies inzwischen so? Es ist ein Paradoxon, das in solchen Situationen häufig zu beobachten ist. Je erfolgreicher das Krisenmanagement ist, desto mehr häufen sich im Nachhinein die Stimmen, die meinen, dass doch alles gar nicht so schlimm gewesen sei. Natürlich kann niemand mit Gewissheit sagen, was genau passiert wäre, wenn die getroffenen Maßnahmen, weiniger umfangreich gewesen wären. Jedoch zeigt ein Blick auf andere Länder, wie verheerend es hätte werden können. Ja, wir haben im internationalen Vergleich ein wesentlich besseres Gesundheitssystem als die meisten Länder. Dies ist jedoch nicht der einzige Grund für die verhältnismäßig geringen Todesraten und die schnelle Eindämmung des SARS-CoV2. Was schon eine geringe Verzögerung der Reaktion bedeutet, haben wir im Falle Englands gesehen. Hätte man dort den Lockdown eine Woche vorgezogen, wäre die Hälfte der durch COVID-19 verursachten Todesfälle vermutlich vermeidbar gewesen.

Auch am isolierten Weg Schwedens können wir verfolgen, welche dramatischen Auswirkungen ein zu zögerliches Vorgehen haben kann. Dort wurde anstatt eines Lockdowns und zeitlich begrenzter Einschränkungen, vor allem auf Empfehlungen für die Bevölkerung und Eigenverantwortung gesetzt. Noch in der zweiten Juni-Hälfte gab es in Schweden genauso viele Neuinfektionen pro Tag wie in 19 Ländern Europas zusammen, inklusive Deutschland und Italien. Die Todesraten sind beim Vergleich mit den Nordeuropäischen Ländern, mit denen Schweden ins Verhältnis gesetzt werden muss, neunmal so hoch wie in Finnland und elfmal so hoch wie in Norwegen. Trotzdem ist man von der angestrebten Herdenimmunität, bei circa sieben Prozent Durchseuchung der Bevölkerung, weit entfernt und die wirtschaftlichen Sekundärschäden sind genauso hoch wie in Deutschland.

Und ganz neu: In Houston, der Stadt, der ich mich durch meine häufigen Aufenthalte und die Leipziger Städtepartnerschaft seit fast 30 Jahren besonders verbunden fühle, werden derzeit die Intensivbetten für COVID-19-Patienten verdoppelt. Es lohnt sich nicht darüber zu diskutieren, ob dies noch die erste oder schon die zweite Welle in Texas ist. Aber wenn das größte medizinische Zentrum der Welt, und mit Sicherheit eines der modernsten, diese Maßnahmen ergreift und die führenden Expertinnen und Experten des Texas Medical Center, Alarm schlagen, da sie nicht wissen, ob selbst dies ausreicht, ist dem eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Allen Skeptikern, die den Weg in Deutschland grundsätzlich bezweifeln, wäre ein Blick gerade dorthin zu empfehlen.

Ja, auch in Deutschland sind erhebliche Fehler gemacht worden. Trotz der von der Bundesregierung im Jahr 2012 in Auftrag gegebenen Studie über eine potentielle Corona-Pandemie wurde keine der Empfehlungen befolgt. Dies macht auch heute noch sprachlos. Auch, dass man in den ersten Wochen viel zu zögerlich reagiert hat, sowohl was die Abschottung nach außen anbelangte, als auch die Versorgung der Bevölkerung, insbesondere der medizinischen Einrichtungen mit Schutzausrüstung, steht außer Frage. Aber spätestens ab März hat die Bundesregierung adäquat reagiert und haben die Landesregierungen, auch bei uns in Sachsen, eine wirklich gute Arbeit geleistet. Im Vergleich zu den meisten Ländern, gerade den großen Industrienationen, konnte Deutschland eine wesentlich geringere Zahl an Infektionen und Verstorbenen aufweisen. Dies sei ausdrücklich gesagt, auch wenn man in den letzten Jahren mit Teilen der Politik häufig hadern musste. Letzteres wird einem auch jetzt wieder bewusst, wenn wieder andere Themen in den Fokus rücken.

Die Bevölkerung hat in der akuten Phase nach immer mehr Informationen, vor allem aber nach „Infotainment“ verlangt, und die Medien sind dem nur allzu gern nachgekommen. Hierbei wurde natürlich häufig übertrieben. Und ja, allzu oft haben die Diskussionen der um Profilierung ringenden Moderatoren und Politiker genervt. Aber Teile der Ärzteschaft müssen sich hier auch an die eigene Nase fassen. Über Monate gab es kaum noch eine Talkshow, in der nicht ein Virologe auftrat und häufig seine Kolleginnen und Kollegen angriff, obwohl die Meinungen meist gar nicht so weit auseinander lagen. Nicht immer wurde so ganz schlüssig gearbeitet, wenn man zum Beispiel Zahlen aus einem regionalen Hotspot auf das gesamte Land hochrechnete. Dies hat teilweise in der Bevölkerung ein Bild von der Wissenschaft erzeugt, welches diese ausdrücklich nicht verdient hat. Zurückblickend kann man nämlich feststellen, dass viele Dinge über dieses uns allen doch bisher unbekannte Virus extrem schnell erkannt werden. So wurde bereits Anfang Februar die noch heute nahezu exakt gültige Altersverteilung der Mortalität bei einer COVID-19-Erkrankung veröffentlicht. Auch wurde schon im Januar in unglaublich kurzer Zeit eine Testmethode entwickelt. Sehr schnell erkannte man die Übertragungswege, auch wenn es bei der Wichtung bald kleine Korrekturen gegeben hat. Und es ist auch zu erwarten, dass in absehbarer Zeit ein Impfstoff entwickelt wird. Noch nie gab es bezüglich einer Erkrankung eine derart koordinierte weltweite Zusammenarbeit und auch Bereitstellung ungeahnter finanzieller Mittel. In zukünftigen derartigen Situationen wäre den Wissenschaftlern nur zu raten, erst ihren unbedingt notwendigen Disput auszutragen, und anschließend an die Öffentlichkeit zu gehen, um die Ergebnisse zu verkünden. Dies ist zugegebenermaßen nicht immer so ganz einfach, da der Druck der Medien nur allzu groß ist.

Das Land steht insbesondere wegen des wirtschaftlichen Totalausfalls in vielen Bereichen und durch die aufgelegten finanziellen Förderprogramme, die die besonders von den Folgen Betroffenen unterstützen sollen, vor einer großen Herausforderung. Wir sächsischen Ärztinnen und Ärzte werden aber die Krise voraussichtlich gut meistern. Die KV Sachsen hat, als erste in Deutschland überhaupt, den gesetzlich vorgesehenen Rettungsschirm in einem Not-HVM in die Praxis umgesetzt.

Noch etwas, was uns in der Ärzteschaft besonders am Herzen liegt: Wir alle haben die Bilder gesehen aus Italien, teilweise auch aus Deutschland, wie den Schwestern, Pflegern, Ärztinnen und Ärzten für Ihre aufopferungsvolle Arbeit von allen Seiten gedankt wurde und sie von Balkonen beklatscht wurden. Viele haben auch geglaubt, dass es nach dem Ende der Pandemie, ein völlig anderes Zusammenleben in der Gesellschaft geben wird. Wenn ich ehrlich bin, hielt ich diese Hoffnung von Anfang an für deutlich übertrieben. Zu erwarten wäre allerdings gewesen, dass es vielleicht eine andere Wertschätzung für die Medizin in diesem Lande geben wird … Auch wer geglaubt hat, dass es nun eine Konzentration auf die wirklich wichtigen Dinge in diesem Land gibt und Politik und Medien nicht ständig auf Nebenschauplätze ausweichen, wird ebenfalls schon jetzt eines Besseren belehrt. Obwohl wir noch mittendrin in der Corona-Krise sind, haben die Journalisten nichts anderes zu tun, als anhand einer drei Jahre alten (!) Studie wieder einmal die Pseudoproblematik der Wartezeit-Differenz zwischen gesetzlich Versicherten und Privatpatienten aufs Tableau zu heben (FAS vom 28.6.) …

Nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, widmen wir uns lieber unseren Patientinnen und Patienten! Sie spüren, nachdem in Folge der gegenwärtigen Infektionszahlen die überfälligen Lockerungen getätigt wurden und in fast allen Praxen wieder der Normalbetrieb herrscht, dass wir die Corona-Pandemie in Deutschland gut bewältigen können. Voraussetzung bleibt allerdings, dass eventuell notwendige Maßnahmen zum gegebenen Zeitpunkt rechtzeitig getroffen werden und sich alle an die jeweiligen Empfehlungen halten. Die erste Welle hat in jedem Fall gezeigt, dass das deutsche Gesundheitssystem nicht umsonst zu den drei führenden weltweit gehört.

Mit einem nochmaligen Dankeschön für die gerade im letzten halben Jahr geleistete Arbeit und den besten Wünschen für einen erholsamen Sommer.

Ihr Frank Rohrwacher

 

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