Hoffnung – Impfen – Impfpflicht?
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
unser Land, Europa und die ganze Welt sind mit der SARS-CoV-2-Pandemie in eine Ausnahmesituation geraten, die den Einzelnen, die Familien und die gesamte Bevölkerung vor Herausforderungen stellt, die in dieser Form für die allermeisten heute Lebenden noch nie dagewesen sind.
Auf der Suche nach Ursachen und Auswegen kommt es zu Diskussionen, die alle Bereiche umfassen und viele Fragen des Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Strukturen berühren. So waren die drastischen Einschränkungen der persönlichen Freiheit aller Menschen sicher die einzige Möglichkeit, der Bedrohung durch die Viruspandemie entgegenzutreten. Die große Hoffnung auf wirksame Mittel im Kampf gegen diese Pandemie beruht nun auf der Entwicklung eines Impfstoffes, der dann die Voraussetzung bietet, das Virus erfolgreich zu bekämpfen.
In der Geschichte der wirksamen Bekämpfung von Infektionskrankheiten gibt es viele überzeugende Beispiele, wie im Kaiserreich die rigorosen Maßnahmen gegen die Pocken.
Dr. August Zinn, Arzt und Reichstagsmitglied, (1874): Der Staat hat die Aufgabe, „die Freiheit des Einzelnen so weit einzuschränken, als es das wohl erkannte Interesse der Gesamtheit erfordere“. Diese staatliche Aufgabe sei schon deshalb notwendig, weil „das Nichtgeimpftsein [...] eine Gemeingefährlichkeit für die Gesellschaft“ darstelle. Zudem sichere eine Impf-pflicht „die Erhaltung einer unabsehbaren Reihe von Arbeitskräften und Arbeitstagen.“.
Mit dieser Begründung wurde im Kaiserreich die Impfpflicht zur Pockenimpfung eingeführt und mit drastischen Zwangsmaßnahmen durchgesetzt.
Offiziell galt die Impfpflicht gegen Pocken in der Bundesrepublik bis Mitte der Siebziger Jahre! In der DDR noch einige Jahre länger. Das Ergebnis: die Pocken sind Dank der Impfung besiegt. Ein Argument der Impfskeptiker / Impfgegner, dass die Wirksamkeit von Impfungen niemals belegt wurde, ist auch damit wiederlegt. Aber auch ohne Zwang und Pflicht konnten bis 1938 mit der freiwilligen Diphtherie-Schutzimpfung Impfquoten von 90 bis fast 99 Prozent erzielt werden; Zahlen, von denen wir heute nur träumen können.
Der simple Slogan „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“ ist ein (weiteres) Beispiel, welche Ergebnisse bei guter Aufklärung trotz Freiwilligkeit erreicht werden. Die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung wurde in der DDR 1960, in der BRD 1962 eingeführt. Während in der Bundesrepublik 1961 noch fast 4.700 Kinder an Kinderlähmung erkrankten, waren es 1965 bereits weniger als 50. Seit 1990 sind in Deutschland keine Neuerkrankungen durch Wild-Polioviren mehr aufgetreten.
Im Brennpunkt meiner Betrachtungen um die Corona-Pandemie sollen deshalb in diesem Zusammenhang das Impfen und diesmal auch die Impfpflicht stehen.
Wie schnell aktuelle Ereignisse die öffentliche Diskussion beeinflussen, wird am Beispiel des am 1. März 2020 in Kraft getretenen Masernschutzgesetzes deutlich. Deutschland hat wieder die Impfpflicht für die Impfung gegen das Masernvirus eingeführt und setzt damit der Tradition der Freiwilligkeit ein Ende. Zielstellung ist die Ausrottung der Krankheit, was nur bei einer Durchimpfungsrate von mindestens 95 Prozent gelingt; dagegen liegt die Impfquote bei Kindern im Alter von 24 Monaten in Deutschland derzeit nur bei 73,9 Prozent.
Nach den ersten Pressemitteilungen und vielen kontroversen Diskussionen zu diesem Thema haben die Ereignisse um die Corona-Pandemie die öffentliche Aufmerksamkeit schnell von diesen Themen abgelenkt. Allerdings macht sich die Masernimpfpflicht durch verstärkt notwendige Aufklärungsarbeit, Überprüfung des Impfstatus und Durchführung von Nachholimpfungen besonders in den Kinderarztpraxen auch in „Coronazeiten“ deutlich bemerkbar.
Das Masernvirus ist äußerst ansteckend und für Säuglinge, die noch nicht geimpft werden konnten, oder Menschen mit Immun- und anderen chronischen Erkrankungen lebensbedrohlich. Über 500 Menschen erkranken jährlich noch in Deutschland an Masern, 12.340 Menschen in der gesamten europäischen Union, 1 von 1.000 Erkrankten stirbt an den Folgen dieser Krankheit. Eine Impfpflicht besteht in den USA, seit 2017 in Italien, seit 2018 in Frankreich und auch in vielen osteuropäischen Ländern.
Als Kinderärztin begrüße ich die Entscheidung zur Impfpflicht gegen das Masernvirus. Sie befreit uns aber nicht von der Verantwortung der unermüdlichen Impfaufklärung und der Entwicklung von Strategien, um die Impffreudigkeit auch ohne Zwang zu erreichen und das Vertrauen zu den Impfstoffen aufzubauen. So wird es uns als Medizinern auch gelingen, auf Basis der Freiwilligkeit die Akzeptanz der Bevölkerung für eine Impfung gegen das Virus „SARS-CoV-2“ zu erreichen und notwendige Impfungen durchzuführen. Vorausgesetzt, dass Wissenschaft und Pharmaindustrie uns einen sicheren Impfstoff zur Verfügung stellen können. Ein ständiger medialer Trommelwirbel diesbezüglich ist dabei aber sicher wenig hilfreich.
Auch in der Zeit der weltweiten Pandemie sollten wir unsere Aufgabe der Impfprävention nicht aus dem Auge verlieren und zur Vermeidung von Koinfektionen gegen Pneumokokken, Influenza und Keuchhusten impfen. Ebenso sollte die Grundimmunisierung im Säuglingsalter mit hoher Priorität durchgeführt werden, desgleichen die MMR-(V)-Impfung.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es gibt noch viel zu diskutieren, angefangen von Verschwörungstheorien über Zwangsimpfungen und das Feindbild der Impfgegner „Pharmakonzerne“. Wir müssen uns ständig nüchtern und rational mit den Themen Infektionskrankheiten, Impfungen und potentielle Nebenwirkungen auseinandersetzen. Nur so werden wir erfolgreich an der systematischen Ausrottung von Infektionskrankheiten und deren schlimmen Folgen mitwirken können.
Ihre Barbara Teichmann