Corona: Ein Blindflug mit harter Landung?
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich möchte die endlosen Diskussionen zu Corona von Virologen, Epidemiologen, Politikern, Profilierungssüchtigen und anderen sich berufen Fühlenden – gewisse Kombinationen davon sind bei einigen der Akteure nicht nur denkbar, sondern offenkundig – nicht kommentieren. Leider Gottes sind unterschiedliche Sichtweisen von wirklich Kompetenten jeweils gut begründbar und begründet. Es ist vieles noch ungeklärt, und ich frage mich, ob und wann wir je die ganze Wahrheit um Corona in ihrer Komplexität kennen werden.
Vor Wahlen gibt es repräsentative Umfragen, die meist in ihren Vorhersagen ziemlich genau stimmen. Was ist aber beim Thema Corona eigentlich eine belastbare Datenbasis? Mir ist schon klar, dass die Entwicklung und Bewertung einer Pandemie etwas anderes ist als eine Wahlprognose. Ich habe aber noch niemanden erlebt, der meine These widerlegt hätte: Neben der selbstverständlich nötigen Testung von bestimmten Gruppen bedarf es aber auch einer repräsentativen bundesweiten Stichprobe als fortlaufende Testung der Bevölkerung im Sinne eines in etwa wöchentlichen Monitorings, um daraus verlässliche Schlüsse auf die Verbreitung der Infektion usw. in der Grundgesamtheit ziehen zu können. Das ist doch machbar!
Ich empfehle diesbezüglich die Lektüre der Lehrbücher für Mikrobiologie und Medizinische Statistik aus meiner Studienzeit, als mit konkreter Datenlage gearbeitet wurde. Wir reden über die Anzahl Infizierter, Erkrankter, über Letalität usw. Dabei aber beziehen wir uns nur auf diejenigen, die als positiv getestet worden sind und erwecken so fahrlässigerweise den Eindruck, das wären nun die Zahlen der tatsächlich Infizierten – und treffen daraus Ableitungen, die einfach unzulässig sind. Welch ein Blindflug! Oder besteht aus verschiedenen denkbaren Gründen vielleicht nicht überall Interesse an den tatsächlichen Zahlen? Welch eine im besten Falle Dummheit, Ignoranz oder aber welch eine Verantwortungslosigkeit stecken dahinter?
Jede Regierung braucht gesicherte und repräsentative Daten und deren Fortschreibung, um realistisch bewerten und planen zu können. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Es ist richtig, dass die Politik dafür sorgt, dass das Gesundheitssystem nicht überfordert wird. Lieber so als anders. Aber wir brauchen doch trotzdem Fakten!
Im geplanten neuen Infektionsschutzgesetz, was hoffentlich schon gelten wird, wenn Sie dieses Editorial in zwei Wochen lesen, werden bis zu 4,5 Millionen Tests pro Woche angestrebt. Ich hoffe, diese Tests werden breit für Risikogruppen eingesetzt und dann aber auch für das dringend nötige repräsentative Erheben und Monitoring der tatsächlichen Infektionszahlen in Real Time. Sonst kann der Blindflug zu einer harten Landung führen, und dies meine ich nicht nur bezüglich des Gesundheitssystems, sondern mit Blick auf Wirtschaft und unser Miteinander. Keiner von uns weiß, wie der weitere Verlauf der Pandemie sein wird.
Belastungsprobe für das Gesundheitssystem
Wir haben aus verschiedenen Gründen in Deutschland mit dem Thema Corona bisher auch Glück gehabt. Wir sollten aber auch sehen und uns später daran erinnern, dass unser Gesundheitssystem bei manchen Mängeln und strukturellen Schwächen grundsätzlich sehr stark und gut aufgestellt ist und eine hohe Pufferkapapazität hat, und dies ganz besonders auch im internationalen Vergleich. Den Ökonomisten und manchem hyperaktiven Effizienzfetischisten sei das einmal vor Augen geführt! Nicht auszudenken, wenn all deren Ideen schon vor Corona umgesetzt worden wären!
Beim Neustart sollten wir uns nicht einfach schütteln und weitermachen, als wäre nichts gewesen. Wir brauchen kein Durchstarten, sondern nach reiflicher Überlegung einen Neustart – der Flug sollte nach der Kursbestimmung eine andere Richtung nehmen. Der Mensch und die Daseinsfürsorge haben im Mittelpunkt zu stehen – und das als unumstößliches Credo und eben nicht eine reine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung, was oft als Heil und Segen angepriesen wird.
Ich will aber fair bleiben – natürlich hat auch dieses System trotz des ökonomischen Drucks das produziert, was man jetzt sehen kann: ein – heute noch – leistungsfähiges Gesundheitswesen. Sowohl stationärer als auch ambulanter Sektor beweisen derzeit ihre Handlungsfähigkeit und Effizienz. Über Jahrzehnte wurde seit Gründung der Bundesrepublik ein solidarisches und gut funktionierendes System aufgebaut, was sich jetzt auch in der Belastungsprobe bewährt. Erst das Erschaffen dieser guten Grundlagen über Jahrzehnte ermöglichte paradoxerweise auch den zunehmenden Missbrauch durch Fehlinanspruchnahme wie auch durch ökonomische Fehlanreize und Profitgier. Dort müssen wir ansetzen, und zwar jetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Reizthema Mangel an Masken, Schutzausrüstung usw. war und ist eine Zumutung, gerade auch für uns Vertragsärzte und Psychotherapeuten, die wir sehr weit vorn im Kontakt mit Patienten stehen. Zu Recht wird ein Systemversagen angeprangert!
Hoffentlich hat nun auch der Letzte begriffen, dass wir im eigenen Land, wenigstens aber in Europa, Essentielles selbst produzieren und bevorraten müssen. Diejenigen, die bisher vieles auf dem Altar von Kostenersparnis usw. geopfert haben, sind nun die Ersten, die am lautesten nach eben diesen Selbstverständlichkeiten rufen! Es hatte für mich schon etwas Aberwitziges, als am 7. April 2020 im Radio gemeldet wurde, dass ein Ministerpräsident, ein Bundesminister und der Lufthansa-Chef am Münchner Flughafen eine Maschine begrüßt haben, als käme ein Staatsgast. Es war aber nicht der Kaiser von China, es waren Masken aus China – Realsatire! Wir sollten innehalten und nachdenken.
Dazu ein Wort in eigener Sache. Natürlich hat wohl fast jeder von Ihnen gedacht: Wieso sollen wir denn in die KV-Bezirksstelle fahren und uns dort (zunächst) nur zwei Masken abholen? Ja, das hatte etwas Absurdes! Und der Ärger darüber ist völlig verständlich. Aber was sollte die KV zu diesem Zeitpunkt anderes tun? Die vollmundig vom Bund versprochenen Lieferungen von Schutzkleidung und Masken kamen nur verzögert und in geringem Umfang. Zum damaligen Zeitpunkt hätten wir noch nicht einmal für jeden Arzt zwei Masken liefern können und mussten auch auf die praxiseigene Ausstattung von persönlicher Schutzausrüstung vertrauen.
Rahmenbedingungen verbessert
Und noch ein zweites Wort in eigener Sache. Die Vertreterversammlung und der Vorstand der KV Sachsen haben sehr schnell einen Not-Honorarverteilungsmaßstab entwickelt und mittlerweile beschlossen. Wir haben das vorbereitet, bevor der Gesetzgeber Regelungen auf den Weg gebracht hat, die die KVen in ihrem Vorgehen rechtlich stützen. Ziel dieses Corona-HVM ist es, auf das pandemiebedingte veränderte Inanspruchnahmeverhalten der Patienten und die sich dadurch ergebenden Fallzahländerungen mit entsprechend veränderten Abrechnungsmöglichkeiten und auf Auflagen wie Quarantäne usw. reagieren zu können, dahingehend, dass Verluste sehr stark begrenzt werden. Diese Möglichkeit haben wir nur, weil die MGV von den Krankenkassen mit befreiender Wirkung gezahlt wird und wir somit unter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben Verluste auffangen können. Damit haben wir im KV-System Regulierungsmöglichkeiten, die andere Berufsgruppen nicht zur Verfügung stehen! Der Gesetzgeber hat im Gesundheitssystem solche Regulierungen, vergleichbare auch im stationären Sektor, vor allem deshalb ermöglicht, damit das Gesundheitssystem weiter funktioniert! Dieser Not-HVM schützt uns alle in einem hohen Maße. Und das ist so auch notwendig! Er hat aber auf der anderen Seite die entscheidende Voraussetzung als Grundlage, dass wir weiter vollumfänglich zur Versorgung unserer Patienten zur Verfügung stehen. Das heißt im Klartext – und so sind die Regelungen auch gestaltet – Schutz in hohem Maße ja, aber nur für diejenigen, die ihren Versorgungsauftrag wie bisher wahrnehmen!
Es ist entscheidend auf die KV Sachsen zurückzuführen, dass in Sachsen Ärzte nicht mehr automatisch in Quarantäne müssen, wie zu Beginn der Pandemie in Deutschland, wenn in ihrer Praxis ein ungeschützter Kontakt zu einem Corona-positiven Patienten aufgetreten war. In der Regel kann weitergearbeitet werden. Und wenn das nicht geht, dann greifen die Sicherungsmaßnahmen des HVM!
Die ersten Reaktionen auf den Not-HVM zeigen sehr viel Zustimmung und auch die große Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen, sich wie bisher zu engagieren. Gleiches gilt übrigens auch für die Reaktionen auf die Faxanfrage der KV Sachsen, wer von uns, sollte sich die Corona-Lage zuspitzen, bereit ist, mehr zu tun als bisher – entweder in den Anlauf- und / oder in den eigenen Praxen. Hier zeigte sich ein großer Rücklauf und ein hohes Maß an Bereitschaft. Danke! Hoffentlich wird sie nicht in Anspruch genommen werden müssen.
In diesem Sinne grüßt Sie
Ihr Stefan Windau