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Anstand in friedlichen Zeiten

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

eigentlich sollte Anstand etwas sein, worüber man nicht lange nachdenken muss: Eine ältere Frau, die vor dem Dresdner Hauptbahnhof die Straße überquert, obwohl ein Auto kommt – nicht anständig, doch wenn der nicht mehr junge Fahrer sie dann anblafft mit „Lauf Oma, lauf!“ – noch weniger anständig.

„Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand.“ Das soll schon Lucius Annaeus Seneca (ca. 4 v. Chr. – 65 n. Chr.) gesagt haben. Doch wie soll das gehen, wenn Gesetze, wie wir es derzeit erleben, in einer wahren Flut auftreten, die kaum einer mehr nachvollziehen, geschweige denn verstehen kann? Und was ist denn dann der Anstand in der heutigen Zeit?

„Das gehört sich nicht.“ Ein Satz, mit dem wir alle mehr oder weniger aufgewachsen sind. Doch findet er heute noch Gehör? Egal, wo man hinliest oder -hört – immer hat man das Gefühl, dass die Zeiten verrohen oder die Sitten verfallen. Selbstverständlichkeiten – „das sagt man nicht“ – oder Anstand – „bleib anständig“ – verlieren scheinbar ihre Gültigkeit. Doch ist das wirklich so? Liegt es nicht vielleicht eher daran, dass die vielen Anständigen einfach nicht so eine laute Stimme haben, als die lauten „Unanständigen“? Hört und sieht man nicht die grelleren Töne und Bilder viel besser? Simple Slogans prägen sich ein. Und doch gibt es jeden Tag so viele Momente des Anstands – wenn die Tür offen gehalten wird, weil man die Hände voll hat, wenn in der Schlange vorm Praxistresen der junge Mann der Mutter mit Kind den Vortritt lässt, damit sie sich schneller hinsetzen kann. Reicht uns das nicht mehr oder ist es zu wenig oder nicht laut genug?

Vielleicht brauchen wir doch Hilfe von einem unserer bedeutendsten deutschen Philosophen – Immanuel Kant. Seine Werke „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ sowie „Kritik der Urteilskraft“ beeinflussen bis heute unser Denken und Wirken. „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten)

Oder nach alter Poesiealbumspruch-Sprache: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“ (Georg Büchmann: Geflügelte Worte) Die revidierte Fassung der Lutherbibel von 2017 übernimmt für die Übersetzung von Tobit 4,15 die sprichwörtliche Form. In der Lutherbibel von 1545 heißt die Stelle: „Was du wilt das man dir thue / das thu einem andern auch.“ Wohl abgeleitet von der oben genannten Bibelstelle, erscheint bereits im mittelhochdeutschen Buch der Rügen in ähnlicher Form: „swaz du niht wil daz dir geschiht / des entuo dem andern niht“ (Theodor von Karajan: Buch der Rügen).

Auch genannt die „Goldene Regel“, zu der es auch viel Gegenrede gibt, da der andere nicht immer den gleichen Geschmack haben muss. Es bleibt also schwierig – jedoch ist nach John Stuart Mill ein auf gegenseitige Achtung abgestimmtes Handeln – verbunden mit Nächstenliebe wohl die einfachste Form, das größtmögliche Glück möglichst vieler zu erreichen. Und ist es nicht das, was wir täglich in unseren Praxen praktizieren? Auf den anderen eingehen, ihm zuhören und wenn möglich, helfen. Ohne Geschrei und laute Schlagzeilen. Also scheint anständig sein, doch nicht so schwer und damit auch leichter vermittelbar.
Es war und bleibt allerdings ein Thema, welches den denkenden Menschen umgetrieben hat. Da stellt sich nur noch die Frage – wollen wir noch denken oder ist es nicht doch bequemer, Meinungen ohne nachzudenken zu übernehmen – denn dadurch bin ich nicht verantwortlich. Und Verantwortung ist dann wohl ein neues großes Fragezeichen.

Egal, womit Sie sich derzeit rumschlagen müssen – die „Goldene Regel“ ist für den Anfang schon eine umsetzbare Möglichkeit. Und vielleicht sollten wir alle wieder auf die leisen Geschichten hören, nicht immer die lauten Schlagzeilen wahrnehmen und uns darauf besinnen, dass es immer noch viel mehr wundervolle Begebenheiten gibt, die es nicht in die Nachrichten schaffen, aber häufiger passieren und unser Leben in diesen friedlichen Zeiten doch immer wieder ein kleines Stückchen heller werden lassen.

Zum Abschluss noch ein Zitat von Honoré de Balzac: „Es genügt nicht, ein anständiger Mensch zu sein. Man muss es auch zeigen.“

Herzlichst Ihre

Grit Richter-Huhn