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Alles eine Sache der Perspektive

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

am Ende des vergangenen Jahres war die Regierungsbildung in Sachsen nun endlich abgeschlossen – mit dem Ergebnis einer Kenia-Koalition. Ob man diese begrüßt oder ihr eher Skepsis entgegenbringt, ist eine Sache der politischen Perspektive. Unabhängig davon stellt sich aber die Frage, womit wir Vertragsärzte, die nun unter Führung und Aufsicht eines SPD-geführten Ministeriums (neuer Name: Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt) – mit Frau Petra Köpping an der Spitze – stehen, zu rechnen haben. Im 133-seitigen Koalitionsvertrag finden sich unter der Rubrik „Soziales“ diverse Absichtserklärungen und Zielstellungen im Bereich „Gesundheit“ – eine davon lautet:

  • „Damit sich Ärztinnen und Ärzte auf ihre Kernarbeiten in der Patientenbehandlung konzentrieren können, unterstützen wir ihre Entlastung durch medizinische Assistenz wie z. B. Nichtärztliche Praxisassistentinnen und -assistenten (NäPa), Versorgungsassistentinnen und -assistenten in der Hausarztpraxis (Verah) und Physician Assistants (PA).“

Das Prinzip ist bekannt, bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhundert hat man in der damaligen DDR, lange vor der „Schwester Agnes“ versucht, den Mangel an Ärzten mit Arzthelfern, Fachkräften ohne Approbation, die sich in den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren qualifiziert hatten, auszugleichen. Das ist somit nicht ganz neu und mit Blick auf das Problem des ärztlichen Nachwuchses als Grund der Delegations- und Substitutionstendenzen seitens der Landesregierung gut gemeint.

Im Rahmen der Möglichkeiten sind deren sonstige Maßnahmen gegen diesen Mangel auch gut gemacht, wenn man an das Stipendienprogramm für Hausärztinnen und -ärzte, die Erweiterung unseres Studienangebotes an der Universität Pécs um zusätzliche 20 Plätze, die Erhöhung der Studienplatzkapazitäten in Leipzig sowie den Aufbau eines Modellstudiengangs Humanmedizin am Standort Chemnitz denkt.

Dennoch ist es eine Frage der Perspektive, wie man zur Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen steht – sieht man darin eher Chancen oder Risiken, wenn Dritte immer mehr ärztliche Leistungen übernehmen?

Entlastung ist natürlich jederzeit willkommen, doch wie der Bypass beim überlasteten Herzen letztlich eine Hilfskonstruktion ist und bleibt, kann auch eine Forcierung der Verlagerung ärztlicher Leistungen an Nicht-Ärzte zur Vermehrung zweitbester Lösungen führen – mit entsprechenden Auswirkungen auf die medizinische Versorgungsqualität insgesamt. Es sei aber auch auf den dem o. g. Zitat nachfolgendem Satz aufmerksam gemacht: „Die mögliche Delegation ärztlicher Leistungen eröffnet dem mittleren medizinischen Personal neue berufliche Möglichkeiten.“

Das klingt möglicherweise auch nach Ersetzen des Arztes durch einen Nicht-Arzt durch Übernahme heilkundlicher Tätigkeiten seitens einer anderen Berufsgruppe – also nach „Substitution“ – „Kurz gesagt, der Arzt ist dann völlig raus.“ (Feststellung von Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz auf dem 44. Symposium für Juristen und Ärzte zum Thema „Ausübung der Heilkunde – durch wen und wie? Delegation, Substitution, Assistenz“ in der Kaiserin-Friedrich-Stiftung in Berlin).

Zumindest die Gesundheitsversorgung in den östlichen Bundesländern ist nicht nur an hausärztlichem Nachwuchs notleidend. Bei der Nutzung der Möglichkeiten der Verlagerung ärztlicher Kompetenzen zur Linderung der daraus resultierenden Symptomatik sollte meines Erachtens dennoch immer dieser Kontext Berücksichtigung finden. Genau genommen gilt dies auch bei anderen ärztlichen Entscheidungen, wie der Gestaltung des Leistungsprofils der eigenen Praxis. Leistungen oder Leistungsbereiche, die man aus welchen Gründen auch immer gern „abwählt“, können bei verbreiteter manifester Unbeliebtheit für immer dem ärztlichen Zuständigkeitsbereich entschwinden – ist das im Sinne der Vertragsärzteschaft?

Unabhängig davon sollten wir an der Forderung, dass das Problem des Ärztemangels durch die Bundespolitik grundsätzlich behoben werden muss, festhalten. Und auch die Frage, warum nicht intensiver von den Möglichkeiten der Steuerung Gebrauch gemacht wird, z. B. durch Erhebung einer Notfallgebühr für Patienten oder Gebühren für ein Studium der Humanmedizin und deren Erlass bei späterem bedarfsinduziertem Einsatz von Absolventen, z. B. in einer Hausarztpraxis auf dem sächsischen Lande, sollten wir diskutieren. Dass wir, die sächsischen Krankenkassen und unsere Landesregierung Studienkapazitäten in Ungarn finanzieren, bringt hoffentlich bald Entlastung in Sachen Ärztemangel, gelöst wird das Problem durch diesen „Bypass“ aber nicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die jeweilige Perspektive dürfte auch maßgeblich für die Bewertung des neuen EBM, der ab 1. April 2020 gilt, sein. Es wird von einer „kleinen“ Reform gesprochen, die einen Beitrag zu mehr Honorargerechtigkeit – Was ist das eigentlich? – ohne Erhöhung der Gesamtvergütung leisten soll. Bereits dieser Umstand kann zu einer Missstimmung bei denjenigen führen, die eine „richtige“ Reform für erforderlich erachten. Manche werden die „Reform“ wiederum für entbehrlich wie einen Kropf halten, nämlich dann, wenn sie von den abgesenkten Bewertungen für technische Leistungen betroffen sind. Nur als positiv wird selbst die Aktualisierung des kalkulatorischen Arztlohns von 105.571,80 Euro auf 117.060 Euro nicht bezeichnet werden können. Denn wer einwendet, dass diese Steigerung zunächst nur theoretischer Natur ist und sich nicht zuletzt durch die immer noch bestehende Budgetierung nicht zwangsläufig auf die Höhe des Honorars durchschlägt, hat leider Recht. Positive Honorarwirksamkeit setzt den Zufluss zusätzlicher Honorarmittel oder Eingriffe in die regionale Honorarverteilung voraus. Die Änderungen des EBM bedingen dies leider nicht automatisch, zumal weitere Einflussfaktoren, wie z. B. Vergütungsquoten und die Differenzen diesbezüglich zwischen den Arztgruppen, eine Rolle spielen.

Wer von der Aufwertung der Gesprächsleistungen profitiert, wird den neuen EBM begrüßen, wessen Leistungen abgewertet wurden, nicht. Und wer meint, es seien von der Abwertung nur Leistungen betroffen, die an vermeintlich „großen Geräten“ erbracht werden, der irrt. Auch Ultraschallgeräte und Endoskope sind schon „groß“. Bereits angekündigte Ausweichstrategien und die mittelfristigen Auswirkungen auf eine qualitativ hochwertige wohnortnahe ambulante Versorgung Kranker werden uns zeitnah beschäftigen müssen.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass es eine Maßgabe des Gesetzgebers ist, dass die Bewertung von Leistungen mit einem hohen Technikanteil zu überprüfen war und (mit dem vorweggenommenen Ergebnis!) die sprechende Medizin zu fördern ist, sollte die eigene Betroffenheit meiner Meinung nach aber nicht der alleinige Bewertungsmaßstab, die alleinige Perspektive sein. Genau genommen lässt sich diese Empfehlung auf alle Lebensbereiche ausdehnen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein Jahr 2020 voller Achtsamkeit und Gelassenheit.
 
Ihr Klaus Hamm