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Verunsicherung durch Lieferengpässe bei Arzneimitteln

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

bestimmt haben sich auch bei Ihnen schon Patienten darüber beklagt, dass ein für sie bewährtes Arzneimittel nicht lieferbar ist. Einer Alternative zu den häufig durch einen Rabattvertrag „erzwungenen“ Arzneimitteln stehen sie oft skeptisch gegenüber. So kann beispielsweise bei einem Antidepressivum ein Präparatewechsel Probleme bereiten, zum Beispiel hinsichtlich Wirkung, Verträglichkeit und Wirkdauer. Hinzu kommt, dass das Ersatzmedikament möglicherweise mit einer höheren Zuzahlung belastet ist. Das ist für die Patienten und für uns Ärzte eine missliche Situation.

Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass in der ehemaligen „Apotheke der Welt“ nun solche Probleme entstehen, um Patienten mit den nötigen Medikamenten zu versorgen? Liegt es, wie manche Vertreter der Pharmaindustrie behaupten, tatsächlich an den Krankenkassen und den verhandelten Rabattverträgen? Der Bundesverband der AOKen bezweifelt das, da Deutschland einen Anteil von nur vier Prozent am globalen patentfreien Markt hat.

Die Ursachen dürften in der Globalisierung und dem allgemeinen Streben von Unternehmen in einer Marktwirtschaft nach Gewinnmaximierung liegen. Bislang breit aufgestellte Pharmafirmen in Deutschland bzw. Europa haben in der letzten Dekade zunehmend ihre Herstellungskosten optimiert und alles ausgelagert, was nicht unbedingt gewinnbringend erschien. Besonders derjenige, der bei der Ausschreibung von Rabattverträgen gute Chancen auf einen Zuschlag haben wollte, sah sich betriebswirtschaftlich dazu veranlasst, die Wirkstoffe so günstig wie möglich einzukaufen. Ein europäischer Hersteller kann dabei mit den niedrigen Lohnkosten sowie den geringeren Sozial- und Umweltstandards in China oder Indien nicht mithalten. So kam es schleichend zu einer Oligopolisierung der Hersteller von Wirkstoffen und Wirkstoffklassen. Mittlerweile genügt eine mittelschwere Havarie bei einem der Wirkstoffhersteller und die weggebrochenen Kapazitäten können kaum durch andere Hersteller aufgefangen oder durch Lagerkapazitäten, die ja auch aus Kostengründen immer weiter zurückgefahren wurden, kompensiert werden. Nicht unerheblich ist der Aspekt, dass sich Europa und die ganze westliche Welt dadurch in eine zunehmende Abhängigkeit begeben und erpressbar gemacht haben.

Wie gehen wir Ärzte damit nun am besten um? Letztlich empfiehlt sich ein enger Kontakt zur Apotheke, um frühzeitig gespiegelt zu bekommen, welche Wirkstoffe und Wirkstärken aktuell betroffen sind. Betrifft der Engpass nur einzelne Präparate eines Wirkstoffes, ist der Verzicht auf das aut idem-Kreuz auch bei den Patienten, die aus Compliance-Gründen bislang immer mit ein und demselben Medikament versorgt wurden, die effizienteste Lösung. Denn die Alternative „keine Therapie“ ist sicher fast immer die schlechtere. Auch eine standardisierte Wirkstoffverordnung, wie sie beispielsweise im Modellvorhaben ARMIN möglich ist, bietet dem Apotheker Spielraum, ein lieferfähiges Präparat auszusuchen. Ist es auf absehbare Zeit um den Wirkstoff insgesamt schlecht bestellt, bleibt meist nur die Suche nach einem alternativen verfügbaren Wirkstoff. Ist diese Alternative teurer als das bislang eingesetzte Präparat, empfiehlt sich ein kurzer Hinweis in der Dokumentation über die bestehende Nichtverfügbarkeit.

Die mannigfaltig in Politik, Selbstverwaltung und Industrie geführte Diskussion über staatlich verordnete industrielle Mindestlagerkapazitäten und / oder die mit finanziellen Anreizen verbundene Wiederaufnahme einer breiten Wirkstoffproduktion in Europa muss in einem sinnvollen Konzept münden, welches die Lage schnellstmöglich entspannt.

Es bleibt zu hoffen, dass Bundesgesundheitsminister Spahn, der die Problematik der Arzneimittel-Lieferengpässe nun auf seine Agenda gesetzt hat, mittels gesetzlicher Vorgaben in absehbarer Zeit einen Zustand herstellen kann, in dem sich ein Arzt wieder um seine Patienten und nicht um die Beschaffung von Arzneimitteln kümmert. Ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihre Hinweise und Anregungen hinsichtlich der Lieferengpässe von Arzneimitteln an die Bundesebene weiterleiten und uns gemeinsam mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung beim Bundesgesundheitsministerium intensiv für Lösungen hinsichtlich der Lieferproblematik einsetzen. Besonders die komplette Nicht-Lieferbarkeit eines Wirkstoffes ist ein untragbarer Zustand und ein Armutszeugnis für die ehemalige „Apotheke der Welt.“

Es grüßt Sie herzlich

 

Ihre Sylvia Krug

 

Lesen Sie hierzu auch die Information von KBV und Bundesärztekammer dieser Ausgabe der KVS-Mitteilungen auf  Seite 18 "Für eine europäische Strategie gegen Arzneimittel-Lieferengpässe".