Die Bewährungsprobe – oder warum ich Arzt geworden bin –
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
wenn man in dem Gesundheitssystem an irgendeiner Stelle Verantwortung trägt, kann man es heute eigentlich nur falsch machen. Selbst die goldene Regel „Wer nichts macht, macht keine Fehler“ hilft hier einmal nicht weiter. An verantwortlicher Stelle befindet sich allerdings nun momentan jeder Arzt. Die Verunsicherung ist – wohlbegründet – groß.
Keiner kann eine solide Antwort auf die wichtigsten Fragen geben:
- Wie schnell wird es zur vollständigen Durchseuchung der Bevölkerung und damit zum „Totlaufen“ der Infektion kommen?
- Wie viele Menschen werden schwer erkranken, wie viele werden sterben?
- Werden – wie bei der saisonalen Influenza – ganz vorrangig die betroffen sein, die sehr alt und/oder krank sind, oder wird es auch eine erhebliche Zahl Junger und Gesunder treffen?
Werden die Todesopfer in Deutschland etwa in der Größenordnung der saisonalen Influenza liegen, also bis zu ca. 1.700 laborbestätigte Todesfälle und bis zu 25.000 geschätzte Gesamttodesfälle oder nur ein Zehntel, oder vielleicht auch 10-mal so viel? Im ersteren Fall wird es später einmal heißen: Es wurde völlig unnötig Panik gemacht, im letzteren, dass der Ernst der Lage in sträflicher Weise heruntergespielt wurde.
Also: Richtig machen kann man es jetzt ohne prophetische Fähigkeiten eigentlich in keinem Fall.
Jeder Arzt steht jetzt vor dem Dilemma, wie er sich in dieser Situation zwischen ärztlichem Ethos und Selbstschutz richtig verhält. Ohne eine erhebliche Portion Pragmatismus wird die Pandemie nicht beherrschbar sein. Nur bei viel bösem Willen kann man es als Aufforderung zum Rechtsbruch verstehen, wenn die Möglichkeit der Einhaltung auch der letzten Gesetzesklausel, die in guten Tagen formuliert wurde, hinterfragt werden soll (an anderer Stelle bewirkt ein solches Handeln „nur“, dass wir in Deutschland keinen Flughafen fertig bekommen …).
Möglicherweise wird sich eine Frage stellen: Können wir nach dem Ende der Pandemie unseren Patienten noch offen in die Augen schauen – oder wird das nicht mehr möglich sein, weil Ärzte, als man sie am dringendsten brauchte, sich „Vom Acker gemacht haben”? Wir sind aber davon überzeugt, dass unter der Ärzteschaft doch eine altruistische Einstellung den natürlich auch vorhandenen Hedonismus weit überwiegt.
Wenn Sie nun fragen, warum so deutliche Worte überhaupt notwendig sind, ist leider darauf zu antworten, dass entsprechende Äußerungen aus der sächsischen Ärzteschaft vorliegen. Eine solche ist am Ende dieses Heftes abgedruckt. Aussagen wie „dagegen bin ich nicht versichert“ oder „Eigenschutz geht vor Fremdschutz“, sind wohl nicht vom hier erforderlichen Pragmatismus, sondern eher von anderen Überlegungen geprägt.
„Dagegen bin ich nicht versichert“, ist übrigens grundsätzlich falsch, da man schon wissen kann, dass eine Berufskrankheit ausnahmslos auch anerkannt wird, wenn nur die möglichen Schutzmaßnahmen (und nicht die maximalen) angewendet wurden. Selbst bei Nadelstichverletzungen in Folge eines „Recapping“ besteht uneingeschränkter Versicherungsschutz! Muss man nicht wissen, könnte man aber. Andererseits: Gibt es einen, der wirklich glaubt, dass nach dem Ende der Pandemie die Berufsgenossenschaft zur Vermeidung einer Zahlungsverpflichtung Ermittlungen aufnehmen würde, ob eine Ansteckung vielleicht durch das Fehlen einer FFP-Maske begünstigt gewesen sein könnte?
Für die, die es nicht glauben, solange sie es nicht von verantwortlicher Stelle schriftlich vorliegen haben, findet sich nachfolgend eine, aus unserer Sicht, eindeutige Stellungnahme der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege – BGW zur Problematik.
Um die Unsicherheiten bezüglich der Wirksamkeit der verschiedenen Masken ein wenig auszuräumen, finden Sie nachfolgend noch einen gemeinsam von Prof. Jatzwauk (Leiter Zentralbereich Krankenhaushygiene/Umweltschutz, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden) und Dr. Grünewald (Leiter Klinik für Infektions- und Tropenmedizin am Zentrum Innere Medizin II, Klinikum Chemnitz) verfassten Artikel. Die hier jetzt schriftlich fixierten Äußerungen waren übrigens die Grundlage für die Aussagen des KV-Vorstandes im Rahmen der Faxaktion.
„Eigenschutz geht vor Fremdschutz“ würde natürlich gelten, wenn wir es hier mit einem Ebola-Virus zu tun hätten, bei dem bekanntermaßen eine Infektion in 25 bis 90 Prozent der Fälle letal verläuft – und dies auch für Junge und Gesunde gilt. Trotz hoher Kontagiosität ist die Letalitätsrate des Corona-Virus offensichtlich jedoch eher in der Größenordnung der Influenza. Uns ist nicht bekannt, dass eine Behandlung von Influenza-Kranken ausnahmslos unter Anwendung von Schutzausrüstung erfolgen würde. Das betrifft übrigens auch den Umgang mit an Masern Erkrankten, wobei an dieser Stelle wahrscheinlich eher mehr Wert auf den Eigenschutz gelegt werden sollte.
„Die Versorgung infektiöser Patienten ist nicht unsere Aufgabe, das müssen andere tun“. Prinzipiell richtig, aber eben nicht im Fall einer schweren Pandemie. Die „Anderen“ gibt es nicht (zumindest nicht in der erforderlichen Zahl). In der Konsequenz würde diese Auffassung bedeuten „Mir doch egal, wer die Patienten versorgt“, auch wenn das letztendlich bedeutet: keiner!
Sicher gehört es nun zur Stellenbeschreibung eines KV-Vorstandes, Abladestelle jeglichen Frusts der Vertragsärzte zu sein, aber es gibt auch hierfür Grenzen, die mit der schon erwähnten, auf der letzten Seite abgedruckten, Äußerung unserer Meinung nach überschritten sind.
Auf der anderen Seite ist natürlich zu konstatieren, dass der Frust (und das betrifft nicht nur einzelne, sondern wahrscheinlich alle Kollegen) schon an mancher Stelle absolut verständlich ist. Denen gilt Dank, die trotzdem pragmatische Lösungen für sich suchen und finden.
Es sind zum Teil schon eindeutig vermeidbare Mangelsituationen aufgetreten (und bestehen noch weiter!). Dies betrifft hauptsächlich die Nicht-Lieferfähigkeit von Desinfektionsmitteln und FFP-Masken. Besonders unter dem Aspekt, dass schon vor Jahren unter Federführung des Robert Koch-Institutes ein sehr ähnliches Krisenszenario erstellt wurde, ist es nicht nachvollziehbar, warum man erst so spät reagiert hat. Am 20. Januar 2020 ist über die erste Corona-Erkrankung außerhalb Chinas (Südkorea) berichtet worden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte man so einfache Lösungen wie die temporäre Außer-Kraft-Setzung der Biozid-Verordnung (EU) Nr. 528/2012 (Erlaubnis der Apotheker, selbst Desinfektionsmittel herzustellen) zumindest im Hintergrund schon vorbereiten können, ohne damit gleich Panikreaktionen auszulösen. Bei den der Globalisierung geschuldeten dramatisch gewachsenen Abhängigkeiten hätte auch eine Produktion von FFP-Masken in Deutschland oder zumindest in Europa schon wesentlich früher organisiert werden können.
Auch die, nicht zuletzt dem Föderalismus geschuldeten, in Deutschland uneinheitlichen Empfehlungen bzw. auch Interpretationen der RKI-Vorgaben sind ein erhebliches Ärgernis für jeden, der an der Basis mit den Problemen konfrontiert ist.
All das ist allerdings jetzt doch mehr „Manöverkritik“. In der jetzigen Situation muss mit diesen Defiziten pragmatisch umgegangen werden. Hierbei wird sich die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen, auch unter der Beteiligung der Sächsischen Landesärztekammer, im Rahmen all ihrer zur Verfügung stehenden Möglichkeiten maximal einbringen. So ist momentan vorgesehen, dass die Ärztinnen und Ärzte FFP-Masken und Schutzkittel über die KV erhalten (allerdings nur, soweit diese lieferfähig sind). Übrigens – für den, der das für erwähnenswert hält – natürlich kostenfrei.
Zum Abschluss noch einmal: Man kann es jetzt eigentlich nur falsch machen. Dass am Ende das Ansehen der Ärzte irreversiblen Schaden nimmt, das kann man allerdings vermeiden! Die Unterzeichner danken der sächsischen Ärzteschaft für das „Aushalten“ der mehr als misslichen Situation. Etwas anderes, als dass jeder sich pragmatisch und im Rahmen seiner Möglichkeiten in die Versorgung der (möglicherweise) Infizierten und Erkrankten einbringt, ist nicht möglich.
Natürlich gibt es im Einzelfall auch einmal gute Gründe, nicht in vorderster Front Infizierten gegenüberzustehen, z. B. wenn der Arzt oder auch die Arzthelferin unter einer immunsuppressiven Therapie stehen. In solchen Fällen wäre aber zumindest auch eine Teilnahme an der telefonischen Beratung der Patienten möglich. Hier wäre auch einmal die Videosprechstunde hilfreich, die leider bisher nicht in wesentlichem Umfang implementiert werden konnte.
Um es abschließend noch einmal deutlich zu sagen: Wer nach dem Motto „sei nicht feige, lass mich hinter den Baum“ vorgeht, wird von uns keinerlei Verständnis oder Unterstützung erfahren können.
Und noch einmal: Vielleicht und hoffentlich kommt es alles nicht so schlimm.
Die „Chance“, den Ruf der Ärzteschaft zu ruinieren (allerdings auch für das Gegenteil!), werden wir aber in jedem Fall haben.
Klaus Heckemann
Sylvia Krug
Stefan Windau
Erik Bodendieck