Zukunft braucht Erinnerung - nicht nur digital
STANDPUNKT
„Zukunft braucht Erinnerung“ – nicht nur digital
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
diese Worte stammen von Max Moor, dem Moderator der TV-Sendung „Titel, Thesen, Temperamente“ in deren Ausgabe vom 5. Oktober diesen Jahres zu einem Beitrag über das Thema Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI). Auch für uns Ärzte stellt sich zunächst die Grundfrage, ob wir in unserem Beruf bei diesem Thema die Zügel in der Hand behalten oder gelenkt werden? Unabhängig davon, wie die Antwort darauf ausfällt, ergeben sich weitere wichtigen Fragen: Ist den Patienten damit wirklich gedient oder sind sie ebenso wie ihre Ärzte Verfügungsmasse Dritter? Beeinflusst die KI die Richtung unseres ärztlichen Denkens? Können wir das beeinflussen? Wollen wir es beeinflussen? Müssen wir es beeinflussen? Verändern wir uns dabei (trotzdem) auch selbst? Welche Auswirkungen hat das auf unsere ärztliche Selbstbestimmung / Freiberuflichkeit?
KI macht den Umgang mit Datenmengen (praxis-)alltagstauglich, welche sonst zu groß, zu komplex, zu schnelllebig und / oder zu schwach strukturiert sind, um sie mit herkömmlichen Methoden der Datenverarbeitung auswerten zu können. Die Beherrschung solcher Datenmengen ist aber Voraussetzung für die beispiellose Entwicklung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten, welche wir erleben. KI hat das Potential, für uns der leistungsfähigste Zulieferer zu sein, auf welchen wir den schnellsten denkbaren Zugriff haben. Als Beispiele sei die Detektion bisher unbekannter Arzneimittelwechselwirkungen bei Multimedikation, Vorbefundungen bei bildgebenden oder Messverfahren sowie permanente Ganganalysen bei Parkinsonpatienten zur Bewertung der Wirksamkeit der Medikation genannt. Wenn die KI ihre Arbeit getan hat bzw. an ihre Grenzen stößt, fängt die Arbeit des Arztes an. Dort wo Routine endet, komplexes Denken beginnt und auch immer etwas Intuition dabei ist, wo es nicht mehr darum geht, Algorithmen möglichst schnell abzuarbeiten, sondern darum, aus dem „Anzug von der Stange“ einen „Maßanzug zu machen“ und das Ergebnis patientenindividuell zu kommunizieren. Diese auf jeden einzelnen Patienten zugeschnittene Anwendung medizinischen Wissens wird beim Arzt verbleiben. Trotzdem müssen wir eine ausreichende Vorstellung haben, was bis dahin die KI geleistet hat. Wir müssen diesen Prozess prinzipiell mitdenken können, auch weil KI nicht unverletzlich ist. Technische Funktionsstörungen können sie unbrauchbar und Manipulationen unkalkulierbar machen. Das größte Risiko bestände, wenn KI in der Lage wäre, selbständig die ihr zu Grunde liegenden Algorithmen zu ändern – eine Horrorvision.
In einer digitalisierten Gesellschaft bieten Apps zunehmend Informations- und Bewertungsangebote auch für Patienten. Wenn ein medizinischer Laie allerdings schon mit einer solchen App so zu beeindrucken ist, dass er glaubt und verkündet, diese sei besser als sein Arzt, zeugt das eher von Naivität und Misstrauen gegenüber letzterem. Patienten können und sollen natürlich aus ihrer Sicht beurteilen, ob eine App ihnen nützt. Ärztliche Expertise ist aber wohl mindestens genauso wichtig, um Kriterien für Ergebnisqualität zu definieren. Auch Entwickler solcher Apps brauchen verlässliche und nicht nach spontaner Eingebung mit „heißer Nadel gestrickte“ Rahmenbedingungen für die Erprobung. Für die Zulassung kann es keinen geringeren Maßstab geben, als für Arzneimittel. Dies insbesondere vor dem Hintergrund von Haftungsfragen, denn solche Apps werden auch in Leitlinien Einzug halten. Zum Teil behaupten Herstellern digitaler Anwendungen, dass es von der Natur letzterer her häufig schwierig sei, gewünschte Evidenznachweise zu erbringen. Das ändert nichts daran, dass diese Nachweise unerlässlich sind. Nur unabhängige Prüfungen von Wirksamkeit sowie medizinischer und Datensicherheit können entscheiden über die Marktreife. Zum Beispiel muss die Deanonymisierbarkeit von Daten ausgeschlossen sein. Prüfsysteme dafür gibt es zum Teil schon oder sind in Entwicklung. Selbst dann werden wahrscheinlich Rote-Hand-Briefe ähnlich dem Arzneimittelbereich nicht ganz ausgeschlossen sein, aber auf ein Minimum reduziert werden.
Auch die elektronischen Patientenakte wird unseren Arbeitsablauf wesentlich erleichtern. Die Verwaltung der anfallenden patientenbezogenen medizinischen Daten darf aber nicht bei den Kostenträgern oder deren Verbänden erfolgen, sondern muss unabhängig von diesen geschehen.
Digitale Versorgungsangebote ohne Arzt zu entwickeln ist für deren Hersteller und die Kostenträger sicher eine Versuchung, wird sich aber ebenso schwer durchsetzen wie Ärzte, welche die Chancen von Digitalisierung und KI nicht nutzen. Wir dürfen uns aber auch nicht ausschließlich auf KI verlassen und dabei unsere eigenen Kompetenzen erodieren lassen. Wir sollten uns damit beschäftigen und uns auch auf diesem Gebiet weiterentwickeln. Je weiter wir es hinausschieben, umso schwerer wird es, auf den immer schneller fahrenden Zug aufzuspringen. Natürlich braucht es dazu Zeit, welche wir kaum übrig haben. Auch deswegen muss ein Bürokratieabbau her, welcher diesen Namen verdient. Damit meine ich weniger elektronisches Rezept oder elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, sondern zum Beispiel klare, ICD-basierte, in die Praxissoftware integrierte Regeln für medizinische und sozialrechtliche Leistungsansprüche, deren Bearbeitung uns bisher unnötig Zeit kostet.
Fazit: Wir werden uns verändern. Wir können und müssen diese Veränderung kontrollieren, um unsere ärztliche Selbstbestimmung zu erhalten. Wir werden die Herausforderungen der Zukunft annehmen. Aber wir werden ebenso verhement einfordern, dass die individuelle und kollektive Erinnerung als hoher Wert erhalten bleibt.
Bleiben wir zuversichtlich
Ihr Axel Stelzner