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Aggressionen, Ängste und Ansprüche

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

laut Duden ist unter Aggression Folgendes zu verstehen: völkerrechtlich ist sie ein rechtswidriger militärischer Angriff auf ein fremdes Staatsgebiet, psychologisch ein durch Affekte ausgelöstes, auf Angriff ausgerichtetes Verhalten des Menschen, das auf einen Machtzuwachs des Angreifers bzw. eine Machtverminderung des Angegriffenen zielt und nochmals psychologisch: eine feindselige, ablehnende Einstellung oder Haltung.

Nachdem ich hier vor einiger Zeit einen Standpunkt zu „Gewalt gegen Ärzte“ geschrieben habe, möchte ich auf Aggressionen als einen wesentlichen Punkt zur Ursachenforschung und ein alltagsrelevantes Thema zurückkommen.

Meist reicht der morgendliche Arbeitsweg aus, um die verschiedenen Spielfelder der Aggressionen zu erleben. Da begegnet einem der erste Misanthrop bereits auf dem Fußweg zur Straße, auf der man dann aufs Freundlichste in den täglichen Kampf ums Dasein im Straßenverkehr einverleibt wird – hier der dem Autofahrer drohende Radler, dort die im Auto herzhaft vor sich hin schimpfende Fahrerin, da die sich gegenseitig rügenden fußläufigen Pendants, weil der Jogger in die Hundeleine oder der Hund in den Jogger gelaufen ist oder das Kind nicht den Vortritt gelassen hat. Und das war nur heute Morgen – ein wahrlich gewöhnlicher Montag.

Am 12. September 2019 hat das Allensbach Institut eine Umfrage der „Generation Mitte“ veröffentlicht, die der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in Auftrag gegeben hatte: 81 Prozent der 1.100 befragten 30- bis 59-Jährigen beklagen, dass die Aggressivität in Deutschland zunehme. An zweiter Stelle (77 Prozent) nannte die „Generation Mitte“, dass immer mehr Menschen unter Zeitdruck stünden, und 73 Prozent beklagten einen wachsenden Egoismus in Deutschland. 90 Prozent der Befragten erleben Aggressivität im Straßenverkehr, 59 Prozent sehen auf der Straße oder auf öffentlichen Plätzen rücksichtsloses Verhalten und 54 Prozent nehmen Aggressivität im Internet wahr.

Sind wir empfindlicher geworden oder verroht oder beides? Faszinierend ist jedoch, dass die sich eben noch draußen bekriegenden Menschen in unseren Wartezimmern und am Anmeldetresen weiterkämpfen – um danach in unseren Sprechzimmern oft zu liebenswürdigen Menschen werden, die man mit ihrem vorherigen Verhalten nicht zusammenbringt. Die Lieblingsfrage aller Interviewenden – „Woran hat‘s gelegen?“ lässt sich wohl nicht so leicht beantworten. Die Antwort auf eine andere Frage dagegen ist relativ sicher – der Sturm der Entrüstung auf den Vorstoß des Vorstandsvorsitzenden der KBV, Dr. Andreas Gassen, in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung, dass derjenige, der öfter zum Facharzt gehe, auch mehr zahlen solle.

Was wurde daraus sofort gedeutet: „Kassenärzte wollen freie Arztwahl bekämpfen“ (Zeit online vom 8. September 2019, 9:07 Uhr.), „Strafgebühr für Patienten für häufige Arztbesuche“ (RND 9. September, 2019, 13:38 Uhr). Soll heißen: ohne reißerische Weltuntergangsstimmungsüberschrift wäre die Nachricht vielleicht als das hängen geblieben, was sie sein sollte. Denn was hat Herr Gassen tatsächlich gesagt? „Es kann dauerhaft kaum jedem Patienten sanktionsfrei gestattet bleiben, jeden Arzt jeder Fachrichtung beliebig oft aufzusuchen, und oft noch zwei oder drei Ärzte derselben Fachrichtung. Derzeit wird das nicht kontrolliert. Die Gesundheitskarte funktioniert wie eine Flatrate, und es gibt Patienten, die das gnadenlos ausnutzen… Wer sich verpflichtet, sich auf einen koordinierenden Arzt zu beschränken, sollte von einem günstigeren Kassentarif profitieren.“

Wer „jederzeit zu jedem Arzt“ gehen wolle, müsse mehr bezahlen. Und was waren einige Reaktionen? „Wie im Tollhaus geht es bei den hauptamtlichen Ärztefunktionären zu“, kritisierte der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Der Sprecher des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung, Florian Lanz, sagte: „Sollen hier durch die Hintertür Strafzahlungen für kranke Menschen vorbereitet werden, die sich hilfesuchend an die vermeintlich falsche Stelle wenden?“ Das sei „keine gute Idee“ und „Die Forderung der Kassenarztfunktionäre ist dreist und unverschämt und lenkt bloß ab vom eigenen Versagen. Die Wartezimmer sind nur deshalb so voll, weil diese Funktionäre seit Jahren die Organisation nicht besser hinbekommen“, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gegenüber der „Bild“-Zeitung.

Kurz gesagt: Schuld, die gar nicht gesucht wurde, wurde sofort reißerisch gefunden. Kommentare zur eigenen Anspruchshaltung – und damit meine ich die der Schreiber, der Patienten, aber auch von uns Ärzten – die ins Grübeln führen könnten, sind sehr selten zu finden. Dabei lohnt es sich doch, nicht immer gleich loszuschreien – sondern vielleicht mal ein wenig nachzudenken: Woher kommt die Angst unserer Patienten, nicht richtig versorgt zu werden, auf dass sie im europäischen Durchschnitt deutlich häufiger beim Arzt vorsprechen, vielleicht wurde ja doch irgendetwas verpasst? Oder erleichtert es uns das Leben vielleicht doch auch ein wenig, wenn wir uns absichern und noch eine weitere Untersuchung anschließen? Warum werden wir überrannt – und ist das eine Tatsache?

Ursachenforschung kostet Zeit und Geduld und benötigt klare Fakten. Letztere jedoch sind häufig schwer zu beschaffen, und Statistiken beruhen häufig auf freiwilliger Meldung oder Umfragen. Und ob jemand mit Angst und Aggressionen sachlich antwortet? Ach – und Aggressionen müssen nicht immer nur schlecht sein: Im Rahmen unserer Lernprozesse müssen aggressive Verhaltensmuster nicht immer schädigend oder feindselig, sondern sie können teilweise sogar lebenswichtig sein. Mag man über den Sinn mancher Sportarten streiten – aber ein extrem friedlicher Fußballspieler wird das gesteckte Ziel in den Augen der anderen wohl nicht ganz erreichen. Die Entscheidung dazu obliegt jedem selbst.

Es wäre gut, wieder etwas mehr Ruhe in dieses Geschrei zu bringen – denn wie sagte schon Ilse Bähnert alias Tom Pauls vor fast dreißig Jahren so schön:

„Wer bläkt, hat Unrecht.“

In diesem Sinne und in Ruhe herzlichst

Ihre

Grit Richter-Huhn