Nach den Europa- und vor den Landtagswahlen
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
„Nach der Wahl ist vor der Wahl“: Dies betrifft, so oder ähnlich, nicht nur die Kollegen hier in Sachsen, sondern auch die gesamte Bundesrepublik – irgendwo stehen immer gerade irgendwelche Wahlen an.
Für uns ist es aber in Sachsen derzeit besonders brisant. Die Wahlergebnisse vom 26. Mai 2019, mit dem Auseinanderdriften der Ränder, in Ostdeutschland der Zuspruch bei der Linkspartei – in Leipzig ist sie sogar der knappe Wahlsieger geworden – und die Erfolge der AfD, aus welchen Gründen dies auch geschehen ist, führen immer mehr zu einer Spaltung der Gesellschaft. Und sie haben auch einen direkten Einfluss auf die ärztliche Berufspolitik.
Sie haben in den letzten Wochen endlose Analysen dazu gehört und je nach Standpunkt kann sich mittlerweile fast jeder herausziehen, was ihm zusagt. Man ist vielleicht verwundert, wie wenig Zeit und medientechnischer Einsatz ausreicht, um eine vollkommen andere Wichtung zu erzeugen. Aber wenn – wie in Deutschland fast immer in den letzten 20 Jahren – am Freitag vor der Wahl die Hälfte der Bevölkerung noch unentschlossen ist, wer die Stimme bekommen wird, braucht man sich darüber nicht zu wundern.
In Gesprächen auf Bundesebene in den letzten Monaten wurde ich als sächsischer Vertreter immer wieder gefragt, was denn bei „Euch in Sachsen eigentlich los ist“, was heißen soll: „Warum fallen die Wahlergebnisse in Ostdeutschland (und speziell hier in Sachsen) so anders aus als im Rest der Bundesrepublik?“. Es wird ja immer wieder von außen gern die Erklärung versucht, dass die AfD-Wähler sich selbst zu den Abgehängten der Gesellschaft zählen. Das mag in Ostdeutschland zu einem Teil so sein, aber gerade für Sachsen als wirtschaftlichen Vorreiter trifft es ja im Vergleich zu den anderen „neuen“ Ländern nur sehr bedingt zu. Hier allerdings gelten die ländlichen Regionen als Hochburg.
Der überwiegende Teil der Wähler fühlt sich offenbar von der CDU-Politik der letzten Jahre nicht mehr repräsentiert. Durch den Linksruck der Kanzlerin und die Umklammerung der SPD mit der Übernahme fast aller deren Themen, entstand ein Vakuum im konservativen Teil, welcher den überwiegenden Wahlerfolg der AfD ausmacht. Das entscheidende Problem hierbei ist die beträchtliche Anzahl an bedenklichen Mitgliedern, welche auch immer wieder in den Medien auftauchen.
Einen dritten Grund stellt die Tatsache dar, dass es vielen Ostdeutschen durch ihre Sozialisierung in einem nicht demokratischen System durchaus bewusst ist: Eine Demokratie ist keine dauerhafte Selbstverständlichkeit. Die erfolgte – oder gefühlte – Einengung des Spektrums der Meinungsvielfalt in der Medienlandschaft ist vielen aus vergangenen Zeiten verdächtig. Hinzu kommt, dass einige erst nach fast 30 Jahren endlich in dem jetzigen System angekommen sind, nun aber durch die Geschehnisse der Jahre 2015 / 16 grundlegende Veränderungen befürchten, die den mühsam aufgebauten Wohlstand gefährden könnten.
Sie werden sich fragen, was hat dies letztendlich mit uns Ärzten zu tun? Leider muss man sagen: extrem viel. Wie oft stehen wir Entscheidungen der Gesundheitspolitik fassungslos gegenüber und sind entsetzt, wie wenig Sachverstand mitunter eingebracht wird, da entscheidende Positionen eben nicht mit Fachleuten – besser: Leuten vom Fach – sondern mit Berufspolitikern besetzt werden. Da man in Ostdeutschland aber sieht, dass an vielen Stellen selbst für einen Sitz im Kreisparlament nicht ausreichend Mitglieder zur Verfügung stehen, so mag man sich zur Zeit nicht so recht vorstellen, wie die Positionsbesetzung in einer Regierung unter AfD-Beteiligung aussehen könnte.
Sachsens CDU-Ministerpräsident Kretschmer befindet sich nach Jahren des Stillstands auf einem wirklich guten Weg. Wir wissen aber nicht, ob die Zeit bis zum 1. September ausreicht, um das Ruder herumzureißen. Und eine Koalition aus vier Parteien – in Sachsen wären dies CDU, SPD, FDP und Grüne – ist vor dem Hintergrund der großen Koalition in Berlin, die ja bekanntermaßen nur aus zwei Partnern besteht, auch nicht gerade eine glückliche Vorstellung. Es wird sich eine äußerst komplizierte Konstellation ergeben.
Vor zehn Jahren, zu den Wahlen 2009, haben wir als GFB, dem Dachverband der Fachärztlichen Berufsverbände, intensiv den Wahlkampf der FDP unterstützt. Dies hat mit dazu geführt, dass die Liberalen ihr Rekordergebnis von 10 Prozent in Sachsen und 15 Prozent im Bund einfahren konnten. Derzeit ist die FDP, die in den letzten Monaten sehr aus dem Fokus geraten ist, gerade auf Bundesebene nur schwer einzuschätzen. Man laviert ständig hin und her, so dass zu hoffen bleibt, die unverzichtbare liberale Kraft legt in Sachsen einen ordentlichen Endspurt hin.
Auch im Bund steuern wir auf schwierige Verhältnisse zu, noch dazu, wo niemand so recht sagen kann, wann die nächsten Bundestagswahlen nun stattfinden werden. Es ist abzusehen, dass aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen zum Beispiel von Schwarz-Grün oder einer auch hier noch größeren Vielzahl der Parteien, eher ein Stillstand in der Politik mit Folgen auch für die Berufspolitik zu erwarten ist. Wir werden also auf längere Zeit mit den nunmehr verabschiedeten Gesetzen leben müssen. Nicht umsonst bemüht sich Jens Spahn deshalb – auch mit Dauerdruck des uns gut bekannten Karl Lauterbach – so viel wie möglich in kürzester Zeit umzusetzen. Es werden überhastet Gesetze eingebracht; populistische Äußerlichkeiten wie die vollkommen sinnlose 24-stündige Terminvergabe stehen im Vordergrund. Die alles entscheidende Änderung, endlich die Eigenverantwortung der Patienten in Deutschland zu erhöhen, bleibt wieder außen vor.
Aber, um es deutlich zu sagen, die Wahlprogramme von Grün-Rot-Rot lassen noch weitaus aberwitzigere Szenarien befürchten.
Noch hat Deutschland im internationalen Vergleich, entgegen vieler Mediendarstellungen, eines der besten, im Verhältnis preiswertes und damit überdurchschnittlich effizientes Gesundheitswesen. Auch wenn mitunter andere Länder als Beispiel vorgehalten werden: Es geht dabei immer um Einzelaspekte. In der Gesamtabrechnung und dem Vergleich aller Kosten und Leistungen steht Deutschland weit oben. Dass immer wieder zitiert wird – „Deutschland zahlt im Gesundheitswesen Mercedes und fährt Golf“ – ist einfach falsch. Der Anteil der Ausgaben für die ambulante Versorgung an den gesamten Gesundheitsausgaben ist in Deutschland im Vergleich der Industriestaaten mit am niedrigsten. Der Leistungskatalog ist zudem überdurchschnittlich ausgestattet.
An erster Stelle steht das deutsche System, wenn man die freie Zugänglichkeit für alle Mitglieder der Gesellschaft zu jeglicher Leistung und zum schnellen Arztbesuch betrachtet. Infolge der hohen Arztdichte, der vielen Krankenhäuser, der freien Arztwahl und vergleichsweise geringen Zuzahlungen gibt es praktisch keine Zugangsbeschränkungen. Dies führt noch immer zu einer hohen Patientenzufriedenheit. Nicht zuletzt auch darum, weil die Wartezeiten im Vergleich zu vielen anderen Ländern gering sind.
Nachzulesen ist das alles im Gutachten des Instituts für Gesundheits-System-Forschung (IGSF) von Professor Fritz Beske. Der Kommentar des Autors: „Es ist zu hoffen, dass durch Reformen oder durch das, was als Reform bezeichnet wird, unser patientenfreundliches, effizientes Gesundheitswesen nicht Schaden leidet oder ganz zerstört wird.“
Möge die Politik die wichtigen Problemfelder (Erhöhung der Eigenverantwortung der Patienten, sinnvolle Digitalisierung, Einführung der Widerspruchslösung bei der Organspende, eine deutliche Reduzierung der von Kapitalgesellschaften geführten medizinischen Versorgungszentren, die Kontrolle von bestimmten Handlungsweisen der Pharmaindustrie und endlich einen zeitgemäßen Euro-EBM wie auch Novellierung der GOÄ) nun endlich angehen.
Mit den besten Wünschen für Sie und eine wohlüberlegte Stimmenvergabe am 1. September 2019
Ihr Frank Rohrwacher