Perspektivenwechsel: Eigenverantwortung des Patienten? Fehlanzeige!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
eines muss man der großen Koalition in Berlin lassen: Seitdem sie sich zusammengerauft hat, purzeln die Gesetzesvorhaben nur so und sind oft – zu schnell – beschlossene Sache. Auch die Kreativität bei der Namensgebung stellt alles bisher Bekannte in den Schatten. Das „Gute Kita“-Gesetz und nun das „Faire Kassenwahl“-Gesetz, um nur mal zwei zu nennen, austariert nach SPD und Union …
Mal sehen, welche Hochglanzbroschürenüberschriften wir noch zu erwarten haben, und vor allem, was verbirgt sich wirklich dahinter? Auch unserem Bundesgesundheitsminister („Mr. Agilo“) kann man keinen Müßiggang unterstellen. Aber, wenn auch manche seiner Anliegen im Grundsatz berechtigt sind: Um im Bild zu bleiben, nur nicht so schön blumig wie die Namen der Gesetze, es geht schon in einigen Bereichen zu wie mit der Brechstange. Ohne Rücksicht auf Verluste werden Gesetze durchgepaukt, der kurzfristig vorzeigbare Erfolg steht im Vordergrund, die eigentlich gewünschten Langzeiteffekte, so scheint es zumindest mir, sind eher fraglich.
Im „Faire Kassenwahl“-Gesetz geht es um einen knallharten Machtkampf zwischen Bund und Ländern. Mit Fairness gegenüber den Versicherten hat das im Kern nichts zu tun.
Wenn im Ergebnis dieses Spahnschen Vorhabens die regionalen AOKen bald bundesweit geöffnet würden, dann entzieht das den Ländern und Regionen Gestaltungsmöglichkeiten und befördert langfristig die Tendenz zu einer Einheitskasse. Das sollte uns allen klar sein. Darüber kann auch der euphemistische Name des Gesetzesvorhabens nicht hinwegtäuschen. Es ist dem Minister zu wünschen, dass er trotz seines Ehrgeizes und seiner unbestreitbaren offenen und verdeckten Kampfkünste mit dieser Idee Schiffbruch erleidet. Bei der Reform des Risikostrukturausgleichs der Krankenkassen hat Spahn aus taktischen Gründen etwas Tempo herausgenommen. Es dürfte ihm klargeworden sein, dass dieses Thema bei den in den neuen Ländern in diesem Jahr anstehenden Landtagswahlen nicht gerade ein Wahlkampfschlager werden dürfte, jedenfalls nicht für die Regierenden in Bund und Land. Klar sein dürfte, dass der Minister sein Vorhaben aber weiterverfolgen wird, nur eben etwas später.
Nun haben wir das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG), es ist beschlossen und wird sicher im Mai 2019 in Kraft treten. Jetzt müssen wir als Ärzte und Psychotherapeuten noch mehr Kraft, Mühe und Zeit aufwenden.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich Sie nerve, sage ich es wieder: Unser zweifelsfrei hoch sachkundiger Gesundheitsminister – und das meine ich hier nicht ironisch – und die große Koalition im Bund haben wieder einmal die Chance vergeben, grundsätzliche Reformen vorzunehmen – und es zeichnet sich nicht ab, dass der Kurs korrigiert wird. Wieder wird an Symptomen herumgedoktert. Wieder wird ganz überwiegend das Angebot an Leistungen erweitert, mundgerecht serviert, garniert mit weiterer Bürokratie – und als 24-Stunden-Menü angepriesen, Abgabe kostenfrei. Strukturierung der Versorgung? Bestenfalls in minimalen Ansätzen. Stärkung der Eigenverantwortung des Patienten? Fehlanzeige!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich war kürzlich einige Wochen in Australien. Da erschienen mir die Nachrichten aus Deutschland noch einmal in einem anderen Lichte, was nicht nur an der dort allgegenwärtigen Sonne gelegen haben dürfte. Mir ist klar, dass man den Schein nicht für das Wesen nehmen darf, aber die Australier wirken durchweg zufriedener, zumindest entspannter, auch wenn viele mehrere Jobs haben und eine so gute soziale Absicherung wie bei uns nicht annähernd gegeben ist. Allerdings ist die Lebenserwartung dort nicht geringer als bei uns. Das hat natürlich viele Ursachen. Aber eines haben die Australier, und nicht nur diese (!), vielen Bürgern unseres Landes voraus: Sie übernehmen für sich – und das selbstverständlich – Verantwortung, und das in allen Lebensbereichen. Keiner würde dort mit einem Schnupfen in die Notaufnahme gehen, schon deshalb nicht, weil er das bezahlen müsste. Keiner käme auf die Idee, sich wegen einer Bagatelle einen AU-Schein ausstellen zu lassen, was nun künftig bei uns bald auf Bestellung und per E-Mail oder WhatsApp möglich sein dürfte.
Nun möchte ich unser Gesundheits- und Solidarsystem im Kern nicht in Frage stellen. Aber – es ist doch grotesk, dass trotz unseres Rundum-Sorglos-Pakets in vielen Bereichen die Unzufriedenheit hier größer ist als in vielen anderen nahen und fernen Ländern. Je mehr gegeben wird, desto selbstverständlicher wird es (hin)genommen, desto weniger wird es geschätzt, umso respektloser wird damit umgegangen – und umso mehr wird gefordert. Wann werden unsere Politiker diese Spirale begreifen, die sie mit Inbrunst anfeuern, deren Opfer sie aber selbst zu werden drohen?
Aus der Perspektive vom anderen Ende der Welt betrachtet – und manchmal hilft Abstand – wird mir immer klarer, dass wir so unser Gesundheitssystem an die Wand fahren. Erleben Sie in Ihrer Praxis, abgesehen von der Anspruchsmentalität, nicht auch den zunehmenden Mangel an Eigenverantwortung und die teils geradezu absurde anerzogene Hilflosigkeit? Und das trifft nicht nur auf Patienten zu, sondern es findet sich in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Miteinanders. Es hilft nicht, den Kopf in den Sand zu stecken.
Ein Perspektiven- und Paradigmenwechsel täte uns gut, gerade auch unseren Regierenden. Sie müssten ja nicht gleich nach Australien fliegen, denn wer weiß, wo dann die Regierungsmaschine wieder einmal zwischenlanden müsste …
Einen entspannten Sommer wünsche ich Ihnen, oder – wie die Australier sagen würden: „No worries!“
Ihr Stefan Windau