Die altruistische MVZ-Finanzindustrie - Chance oder Risiko für die Sicherstellung der Versorgung?
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
gehören auch Sie zu den „Auserwählten“, die von der MVZ DerArzt eG ein Stellenangebot zugeschickt bekommen haben?
Es erfüllt uns mit Sorge, auf welche Weise unseren niedergelassenen Ärzten ein Eintritt in eine bundesweit agierende MVZ-Gesellschaft schmackhaft gemacht werden soll. Von der o. g. Genossenschaft haben wir erstmalig am 25. Juli 2018 Kenntnis erhalten. Für einen „MVZ-Direktor“ wurde damals „doppeltes Klinik-Chefarztgehalt“, „ein Firmenwagen im Wert von 150.000 Euro“, „60 Tage Urlaub“ und „10 Tage bezahlte Fortbildung“ ausgelobt. In diesem Stellenangebot wurde auch gleich die Gegenfinanzierung erwähnt und zwar „140 IVOM an 2 Wochentagen“ sowie eine „OCT Screening Fabrik“ (sic!). Hier wird die Absicht der Industrialisierung ganz offen ausgesprochen. Wem entspricht denn in einer Fabrik der Patient bzw. der Arzt, dem Werkstück bzw. dem Werkzeug, wem sonst! Ob diese neue Charakterisierung allerdings beiden so gefällt?
Wenn aber nun dieses MVZ in großem Stil bundesweit Hausarztpraxen aufkaufen will und plant, bis zum Jahr 2023 rund 1.000 Praxen mit 2.000 angestellten Ärzten unter seinem Dach zu vereinen, hat dieses Ansinnen das Potential, die Versorgungslandschaft nachhaltig im Sinne einer Abkehr von den herkömmlichen Arztpraxen und damit auch von der Flächendeckung der Versorgung umzugestalten – mit der Tendenz zur Monopolisierung der (haus-)ärztlichen Versorgung. Hier steht die KV Sachsen zumindest nicht ganz allein in der Bewertung. Eine entsprechende Meinungsäußerung des Chefs des Bayerischen Hausärzteverbandes finden Sie auf Seite 7.
Insgesamt ist wohl davon auszugehen, dass die o. g. Genossenschaft – im Gegensatz zur altruistischen Eigendarstellung – durchaus vordergründig Kapital- und Investmentinteressen verfolgt. Wer Anleger sucht, will nicht vorrangig in der vertragsärztlichen Versorgung tätig sein, sondern betrachtet diese vor allem als Spekulationsobjekt. Es ist zu befürchten, dass sich mit der Etablierung derartiger Konzepte Anbieter von Gesundheitsleistungen auf die Versorgungsbereiche fixieren, welche hohe Einnahmen garantieren und nicht auf das, was Patientinnen und Patienten in der Grundversorgung wirklich benötigen. Sicher wird es nicht mehr lange dauern, dass für solche „innovativen“ Konzepte auch noch Steuermittel eingefordert werden.
Diese Art Konstrukte müssen allerdings nicht immer funktionieren. In der KV Sachsen ist es noch gut in Erinnerung, wie in Dresden der Betreiber eines „Neuro-MVZ“ mit der Hybris angetreten war, möglichst alle Nervenärzte der Stadt Dresden in seiner Einrichtung zu konzentrieren. Das Ganze endete allerdings in einer Insolvenz und für die Bezirksgeschäftsstelle Dresden der KV Sachsen waren mannigfaltige Anstrengungen erforderlich, die schon „eingekauften“ Ärzte dann in andere Anstellungen bzw. die eigene Niederlassung zu begleiten.
In dem Angebot des MVZ DerArzt eG wird mit (vermeintlichen) Zukunftsängsten von Ärzten gespielt und es werden Risiken dramatisiert, die sich bei näherem Hinsehen als zweifelhaft erweisen. Ärzte in ihrem Stand als Selbstständige sind – anders als Unternehmer und Freiberufler in der freien Wirtschaft – nur in absoluten Einzelfällen von Insolvenzen betroffen. Ich habe bisher auch noch keinen niedergelassenen Arzt kennengelernt, der am Ende seiner Berufstätigkeit seine Entscheidung zur Niederlassung bereut hätte.
Der niedergelassene Arzt bietet seinen Patienten eine auf Dauer angelegte individuelle medizinische Versorgung – auch auf dem Land und speziell in entlegenen Regionen. Er versorgt wesentlich mehr Patienten im Vergleich zu angestellten Ärzten – was allerdings keinesfalls als ein Vorwurf gegenüber unseren angestellten Kollegen aufgefasst werden darf, denn es ist sicher von niemandem zu erwarten, mit einem Arbeitsvertrag von 40 Wochenstunden deutlich darüber hinaus ärztlich tätig zu sein.
Eine Auswertung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland ergab, dass von den angestellten Ärzten im Vergleich fachgruppenabhängig je Arzt (gewichtet auf eine Vollzeitstelle) nur 61 bis 89 Prozent an Fällen je Arzt in eigener Niederlassung versorgt werden. Mit der zentralisierten Versorgung ganzer Landstriche durch MVZ werden außerdem nicht nur die Wege zum Arzt deutlich länger, sondern es hat sich gezeigt, dass sich MVZ hauptsächlich in Ballungsgebieten ansiedeln – womit eine Entspannung bei der medizinischen Versorgung im ländlichen Raum nicht in Sicht ist. Die hohen Fluktuationsraten der angestellten Ärzte in größeren MVZ erschweren auch in erheblichem Maß die Entstehung einer nachhaltigen Arzt-Patient-Beziehung, welche besonders im hausärztlichen Bereich für die Compliance und damit auch den Therapieerfolg nicht zu unterschätzen ist.
Schaut man sich die heute gängigen Kooperationsformen wie Praxisgemeinschaft, Apparategemeinschaft, Ärztehaus, Praxisnetz, Gemeinschaftspraxis, überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft und MVZ an, haben sie sicher alle ihre Berechtigung. In dem Betreiben von Groß-MVZ jetzt die Lösung unserer wichtigsten Probleme zu sehen ist blauäugig, kann aber vielleicht im Interesse bestimmter politischer Kreise liegen, denen die niedergelassenen Ärzte schon lange generell ein Dorn im Auge sind.
Die KV Sachsen begrüßt es, wenn in den Medizinischen Versorgungszentren Ärzte tätig werden, die dort ihre ersten Erfahrungen in der ambulanten Medizin sammeln möchten. Allerdings denken wir, dass es aus den oben genannten Gründen sowohl für die Ärzte als auch für die Versorgung gut ist, wenn perspektivisch eine eigene Niederlassung angestrebt wird.
MVZ, die sich überwiegend in städtischen Gebieten ansiedeln oder vorwiegend auf Profit aus sind, lösen das Problem des Ärztemangels nicht. Wir haben es jedoch sehr begrüßt, dass im Zuge der letzten Gesetzesnovellierung auch Kommunen erlaubt wurde, MVZ zu gründen. Das wirkt als Ausdruck des Willens des Gesetzgebers, die Kommerzialisierung zurückzudrängen und den von Mangelsituationen betroffenen Kommunen eine Mitwirkungsmöglichkeit zu geben. Insbesondere für Kommunen im ländlichen Raum und ohne Krankenhaus in der Nähe wird diese Initiative von uns sehr positiv eingeschätzt. Gleichzeitig schränkte der Gesetzgeber im Jahr 2012 den Kreis möglicher MVZ-Gründer ein, mit der Begründung, dass die Unabhängigkeit medizinischer Entscheidungen gesichert werden solle. Offensichtlich birgt der Einstieg renditeorientierter Fremdinvestoren in die gesundheitliche Versorgung auch aus Sicht des Gesetzgebers die Gefahr, dass es zu einer Dominanz wirtschaftlicher Interessen gegenüber medizinischen Belangen kommen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
behalten Sie auch weiterhin einen kritischen Blick auf solche und ähnliche Sonderangebote. Auch unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit sollten wir unseren Nachfolgern die Chance der freien Niederlassung erhalten.
Ihr Klaus Heckemann