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Gewalt hat viele Gesichter - und richtet sich auch gegen Ärzte

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Nachrichten über Gewalt gegen medizinisches Personal scheinen sich zu häufen. Jedem von uns begegnet sie auf unterschiedliche Weise. Doch wie definiert sich Gewalt?

Der Duden sagt, es handele sich zum Ersten um die Macht, die Befugnis oder das Recht und die Mittel, über jemanden bzw. etwas zu bestimmen oder zu herrschen. Zum Zweiten ist sie unrechtmäßiges Vorgehen, wodurch jemand zu etwas gezwungen wird oder die gegen jemanden – rücksichtslos angewendete – physische oder psychische Kraft, mit der etwas erreicht wird. Und zum Dritten ist sie eine elementare Kraft von zwingender Wirkung.

Auf welche Weise kommt sie nun gegenüber uns Ärzten und medizinischem Personal zum Tragen?

Bei der Vorbereitung für diesen Artikel bin ich von Kollegen gefragt worden, ob ich bei diesem Titel das Terminservice- und Versorgungsgesetz meine. Der erste Absatz der Dudendefinition ließe sich schließlich trefflich dazu diskutieren – doch dazu ein anderes Mal. Heute geht es um eine andere Gewalt.

Feindseligkeiten gegen Ärzte und deren Personal sowie gegen Klinikmitarbeiter nehmen zu. Der aktuelle Ärztemonitor von KBV und NAV-Virchow-Bund hat täglich 75 Angriffe auf niedergelassene Kolleginnen und Kollegen berechnet. Unser Beruf, der häufig genug dazu dient, Folgen von Gewalt zu behandeln, gerät selbst in den Fokus derer, die diese ausüben. So ist es in Kliniken inzwischen schon üblich, Wachdienste zu beschäftigen, um in Notaufnahmen reibungslos arbeiten zu können, zudem werden Feuerwehr und Rettungskräfte häufig durch Gaffer und Pöbler behindert. Damit sinkt auch die Schwelle, Gewalt in Praxen einzusetzen.

Gewalt hat viele Gesichter – per definitionem fängt diese meist schon beim morgendlichen Arbeitsweg an, Pöbeleien auf der Straße und den Fußwegen, Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr von allen Beteiligten, Drängler in der Schlange beim Bäcker oder vor der Praxis – finden kann man sie überall. Die Ursachen sind vielfältig, die Ursachenforschung steckt oft noch in den Kinderschuhen. Speziell für Praxen wurde festgestellt, dass die Gewalt häufig kombiniert mit Alkohol und Drogen sowie mit langen Wartezeiten auftritt.

Doch woher kommt dieser Anstieg an Gewalt – in einer Zeit, wo es tatsächlich wirtschaftlich brummt, alle theoretisch ein Dach über dem Kopf und keinen Hunger haben müssten. Warum steigt die Unzufriedenheit und sinkt die Schwelle, andere zu beleidigen? Waren es früher nur die „Jugendlichen“, die an vielem Schuld zu sein schienen – siehe folgendes Zitat: „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ Das sagte Aristoteles, der von 384 bis 322 v. Chr. lebte!

So fällt auf, dass heute alle Altersgruppen – auch die vermeintlichen Vorbilder – bereit sind, Grenzen des Anstands und der Gewaltlosigkeit zu übertreten. Verbale Entgleisungen in der Praxis finden nach meiner Erfahrung häufig auch von älteren Mitmenschen statt, die vermuten, dass sie ihren Termin bei der Fußpflege, dem Friseur oder auch nur das Mittagessen nicht mehr in Ruhe erreichen und dafür teilweise Patienten misshandeln, denen es körperlich deutlich schlechter geht. Dies geschieht sogar unter Gebrauch von Gehhilfen, die zwischen Kinderwagenräder oder vor Beine geworfen werden, um sich Platz zu schaffen. Das sind leider keine Einzelfälle. Originalzitate aus meiner Praxis machen sprachlos: „Die Chemo bringt doch bei der eh nix mehr, warum ist sie vor mir dran?“ oder „Ich hab mein Leben lang gearbeitet, da geht man nicht zum Arzt, das macht man im Alter!“

Jedoch gibt es – und das ist der Großteil der Patienten – immer noch viele Menschen, die solch ein rücksichtsloses und beleidigendes Verhalten nicht unwidersprochen hinnehmen. Die sich einmischen und ihre Mitmenschen auffordern, sich zu entschuldigen, die den Beleidigten Trost spenden und sich „fremdschämen“.

Was können wir selber tun, um Situationen nicht entgleisen zu lassen? Unbedingt Hilfe holen: Türen öffnen, einen Zweiten dazu rufen, versuchen ruhig zu bleiben, Telefon nutzen, Beleidigungen nicht hinnehmen, nachfragen, sofern ein Gespräch möglich ist, Praxisverweise ausstellen und diese auch durchsetzen und vor allem zusammenhalten, zueinander stehen. Eine Selbstverständlichkeit – meinen Sie vielleicht? In der Hektik des Alltags und des teilweise unerklärlich hohen Anspruchsverhaltens von vielen Patienten ist das nicht immer einfach.

Wichtig ist auch die Demonstration von Nichtakzeptanz unangemessenen Verhaltens sofort – und nicht erst nach einer halben Stunde. Denn das führt, wie inzwischen allgemein bekannt, nicht zu einem Erkennen des Fehlers oder gar erzieherischen Effekten: Wenn Gerichtsverhandlungen erst zwei Jahre nach der Tat stattfinden, ist das Unrechtsbewusstsein häufig gegen Null gesunken, denn man hatte ja Zeit, sich alles hübsch zu reden oder die Chance, noch Schlimmeres zu begehen, was das Vorhergehende nicht mehr wichtig erscheinen lässt.

Deeskalationsschulungen sind inzwischen genauso wesentlich wie Notfallübungen und leider auch genauso gefragt. Man kann sich Unterstützung technischer Art, zum Beispiel durch einen Handalarm, holen. Auch politisch lässt sich einiges erreichen. So plädierten sowohl der 121. Ärztetag in Erfurt in diesem Jahr als auch die KBV-Vertreterversammlung im Mai dafür, Ärzte in den erweiterten gesetzlichen Gewaltschutz für Vollstreckungsbeamte einzubeziehen. Die Bundesärztekammer (BÄK) verabschiedete im August diesen Jahres eine Resolution, damit Gewalt gegen Ärzte „gesamtgesellschaftlich zu ächten“ sei. „Ärztinnen und Ärzte sind Retter und Helfer. Sie verdienen für ihre Arbeit Respekt, Unterstützung und vor allem Schutz vor jeglicher Form verbaler und körperlicher Gewalt“, heißt es darin. Ärzte würden sich tagtäglich für das Wohl ihrer Patienten einsetzen. Sie seien auf die Solidarität aller Bürger angewiesen, um ihr eigenes Wohl zu schützen. Darüber hinaus forderte die BÄK, dass der Gewalt gegen Ärzte vorzubeugen ist.

Es ist wichtig zu signalisieren, dass hier Linien überschritten werden. Besonders wichtig: Die Strafen müssen sofort umgesetzt werden. Und nicht nur der Staat, sondern auch seine Bürger – unsere Patienten – sind dafür verantwortlich, dass diejenigen, die für sie arbeiten wollen, dies auch ohne Probleme tun können. Teilen Sie das Ihren Patienten immer wieder mit. 75 Fälle von Gewalt täglich sind eindeutig 75 zu viel.

Passen Sie gut auf sich und Ihre Mitmenschen auf – und noch ein Tipp von einem Sachsen:

„Lächeln ist die eleganteste Art,
seinen Gegnern die Zähne zu zeigen.“

Werner Paul Walther Finck
(* 2. Mai 1902 in Görlitz; † 31. Juli 1978 in München)

Ihre

 

Grit Richter-Huhn