Das Prinzip der Herdenimmunität - höhere Impfraten bringen allen mehr Schutz
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
ein heißer Sommer liegt hinter uns, und damit meine ich nicht nur das Klima, sondern auch die Signale aus der Politik, die wir als Referententwürfe vom Bundesministerium für Gesundheit erhalten haben. Ich hoffe aber dennoch, dass Sie erholsame Urlaubstage verleben konnten und mit Elan wieder an den Arbeitsalltag herangehen.
Auch nach dem Sommer wird das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) unsere Gemüter weiter erhitzen und für heiße Diskussionen sorgen, da es einen erheblichen Eingriff in unsere Selbstverwaltung und in die Organisationshoheit unserer Praxen darstellt. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit aber erneut auf einige Aspekte zum Thema „Impfen“ lenken.
Seit dem 29. Juni 2018 ist es nun offiziell: Ab sofort sind tetravalente Influenzaimpfstoffe Teil der Schutzimpfungsrichtlinie und damit pünktlich zur Impfsaison 2018 / 2019 eine Pflichtleistung für die gesetzlich Krankenversicherten aller Krankenkassen. Mit dieser Präzisierung der Schutzimpfungsrichtlinie folgt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) der Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) vom 11. Januar 2018, dass ab der Impfsaison 2018 / 2019 zur Grippeimpfung ein Vierfach-Impfstoff mit der jeweilig aktuellen, von der WHO empfohlenen Antigenkombination zu verwenden ist.
Mit dieser Entscheidung stehen wir nun nicht mehr im Konflikt zwischen medizinisch Machbarem und finanziell Möglichem und sollten unser Augenmerk wieder auf die Erhöhung der Akzeptanz der Influenza-Impfung lenken. Dabei sollten wir mit gutem Beispiel vorangehen. Eine Durchimpfungsrate von etwa 60 Prozent in der Ärzteschaft und von nur 30 bis 40 Prozent beim nichtärztlichen medizinischen Personal wird nach meiner Ansicht unserer Verantwortung gegenüber unseren Patienten nicht gerecht.
Eine höhere Durchimpfungsrate können wir aber nur erreichen, wenn wir alle Altersgruppen impfen. Allerdings sehe ich derzeit noch nicht, dass die STIKO ihre Empfehlung zur Influenza-Impfung (nur chronisch erkrankte Menschen und Menschen über 60 Jahre) ausweiten wird, obwohl einige Bundesländer die Impfung generell ab dem sechsten Lebensmonat empfehlen, wie auch Sachsen (Sächsische Impfkommision, kurz: SIKO) die Impfung für Kinder empfiehlt.
Bei der Bestellung der Impfstoffe gelten nach wie vor wirtschaftliche Gesichtspunkte – also nur so viel Impfstoff zu bestellen, wie wir auch impfen können und wollen, damit es nicht zu Regressforderungen von Seiten der Krankenkassen kommen kann.
Eine weitere erfreuliche Entwicklung hat der lange Kampf um die Impfung gegen Humane Papillomviren (HPV) bei Jungen genommen. Seit vielen Jahren fordern Kinder- und Frauenärzte, Urologen, HNO-Ärzte und Netzwerke zum Schutz vor HPV-Erkrankungen die Impfung für Jungen. Die SIKO hatte bereits vor fünf Jahren die HPV-Impfung für Jungen und Männer in ihre öffentlichen Impfempfehlungen aufgenommen und war Vorreiter in Deutschland.
Nun hat am 28. Juni 2018 die STIKO die Empfehlung für die HPV-Impfung der Jungen endlich ausgesprochen. Diese Empfehlung wurde im Epidemiologischen Bulletin 26 / 2018 veröffentlicht und gilt somit ab sofort für alle Bundesländer.
Damit können nicht nur Mädchen, sondern auch alle Jungen im Alter von 9 bis 14 Jahren geimpft werden. Eine Nachholimpfung wird bis zum Alter von 17 Jahren empfohlen. Die Impfung wird, wie alle Standardimpfungen, von den gesetzlichen Krankenkassen aber erst bezahlt, wenn der G-BA dem zugestimmt hat – voraussichtlich Ende September 2018 – und die neue Schutzimpfungsrichtlinie dann publiziert ist. Etliche Kassen bezahlen die Impfung bereits jetzt.
Nur eine frühzeitige Impfung von Mädchen und Jungen führt zu einer deutlichen Reduktion der mit diesen Viren verbundenen Krebsarten und Erkrankungen. Zudem kann die HPV-Impfung für Jungen und Männer zu einer höheren Impfrate in der Bevölkerung beitragen und so über das Prinzip der Herdenimmunität indirekt auch ungeimpfte Mädchen schützen.
In Deutschland erkranken jedes Jahr 4.600 Frauen an Gebärmutterhalskrebs, 600 Männer an Analkarzinomen, mindestens 250 an Peniskarzinomen und mindestens 750 an Karzinomen in der Mundhöhle oder im Rachen, die auf einen HPV-Infektion zurückgehen. Leider sind wir in Deutschland noch sehr weit davon entfernt, die notwendige Impfquote von etwa 85 Prozent zu erreichen.
Es ist traurig und besorgniserregend, dass wir es nicht schaffen, mehr als 40 Prozent unserer Mädchen diesen möglichen Schutz angedeihen zu lassen. In Ländern wie Großbritannien, Schweden oder Australien werden mit schulbasierten Programmen Impfquoten von 80 Prozent und mehr erreicht.
Deshalb appelliere ich an Sie, jeden Arzt-Patient-Kontakt mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu nutzen, um über die HPV-assoziierten Krebserkrankungen bei Männern und Frauen aufzuklären und die HPV-Impfung indikationsgerecht durchzuführen. Wenn ein Fünftel aller Jungen gegen HPV geimpft würde, könnten in den nächsten 100 Jahren 22.000 Zervixkarzinome und 25.000 andere HPV-assoziierte Karzinome im Urogenital- und Oropharynxbereich verhindert werden.
Im Interesse unserer Patienten, Kinder und Enkelkinder sollten wir uns dieser Herausforderung stellen.
In diesem Sinne
Ihre Barbara Teichmann