Turmbau zu Babel – wo liegt das gesunde Maß?
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
während ich versuche, diesem Editorial Sinn und Form zu geben, ist gerade nicht klar, ob die große Koalition noch regieren wird, oder ein anderes Bündnis die Geschicke unseres Landes in der Hand hat, wenn Sie dieses Heft erreicht.
Aber dafür dürfte eines klar sein: An der gesundheitspolitischen Grundausrichtung wird sich nicht wirklich etwas ändern, selbst wenn das Bild der Agierenden ein bunteres wäre. Und das ist das eigentlich Frustrierende: Denn allen auf diesem Bild ist anzusehen, gleich welcher Farbe: Sie rufen den Versicherten zu – nur jeder ein bisschen anders, etwas lauter oder leiser – denn schließlich muss man sich ja als voneinander unterscheidbar darstellen: „Darf es noch ein bisschen mehr sein?“
Nun sollen die zu erweiternden Sprechzeiten für Niedergelassene zeitnah in Gesetzesform gegossen werden. Doch damit nicht genug. Der GKV-Spitzenverband legt nach: Die Ärzte mögen bitteschön an den Wochentagen doch länger auch am Abend arbeiten, und regelhafte Sonnabendssprechstunden wären doch auch ganz schön. Dafür könnte es dann auch einen unteren zweistelligen Millionenbetrag (für ganz Deutschland!) geben. Mit soviel „Großzügigkeit“ habe ich nun wirklich nicht gerechnet.
Das „GKV-Versichertenentlastungsgesetz“ ist jetzt auch auf gutem Wege … So kann man doch gut damit punkten, den wählenden Versicherten etwas zurückzugeben, was sich für den / die Gebenden dann hoffentlich auch im Wählerverhalten auszahlen möge, nur gibt es dafür allerdings keine Garantie.
Ganz nebenbei findet sich im Gesetzentwurf folgende Formulierung: „Der Risikostrukturausgleich ist unter Berücksichtigung der Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs bis zum 31. Dezember 2019 gesetzlich fortzuentwickeln.“ Dies könnte weitreichende Konsequenzen haben. Was kann das nur bedeuten? Dann ist zweierlei möglich: Geld den Versicherten zu erstatten und durch die Regionalisierung des RSA die Beitragsgelder der GKV-Versicherten zu verschieben, nämlich von Regionen mit relativ niedrigen GKV-Kosten zu solchen mit höheren. Im Klartext – Verschiebung von Fläche in die Stadt, und summa summarum alles über alles von Ost nach West. So rechnet sich das Ganze dann quasi auch doppelt, die regionale Verteilung der Wähler fest im Blick. Im Ergebnis verschärft es die Diskrepanz zwischen Ost und West.
Der Versicherte wird sicherlich in näherer Zukunft, unabhängig vom erbärmlichen Gezerre um eCard, TI-Anbindung etc., über eine App seine Gesundheitsdaten zu jeder Tages- und Nachtzeit abrufen können. Dagegen ist kaum etwas einzuwenden, unabhängig davon, wie sinnvoll das nun wirklich ist oder nicht. Es dürfte aber klar sein, dass damit der nächste Wunsch und dann irgendwann auch ein Anspruch kreiert wird – den Arzt zu jeder Tages- und Nachtzeit zu allem und jedem kontaktieren zu können, dies bitte möglichst per E-Mail und Fernbehandlung. Zugegeben, etwas überzeichnet und sarkastisch, aber auch das ist eine Möglichkeit, die Inanspruchnahme von Notfalldienst und Notaufnahmen zu reduzieren.
Wann endlich wird die Politik ihrer Verantwortung gerecht werden, die gesamtgesellschaftlichen Folgen dieses „Turmbaus zu Babel“ bedenken und dem uneingeschränkten Leistungsversprechen ein Ende setzen? Das Agieren der Politik, leider auch von Kostenträgern, induziert aus unterschiedlichen, aber sehr durchsichtigen und rein eigennützigen Gründen Wünsche, die dann zu gefühlten und bald auch zu rechtlich verbrieften Ansprüchen werden.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, doch ich erlebe in zunehmendem Maße, dass Patienten kommen, die mir nicht mehr ihre Beschwerden klagen, sondern mir beiläufig die Diagnose nennen und nur deshalb im Sprechzimmer aufschlagen, weil sie ein MRT haben wollen, wobei sie erwartet hatten, dass die Überweisung dazu eigentlich unkompliziert über die Theke hätte gegeben werden können. Ich glaube, dass sich diesen Irrsinn kein Gesundheitswesen dieser Welt leistet außer das unsrige. Zweifelsfrei gibt es in vielen Industrieländern auch übersteigerte individuelle oder teils kollektive Inanspruchnahme, nur mit dem kleinen Unterschied, dass man es dort selbst bezahlen muss! Hier darf der Arzt als ziemlich Letzter in der Nahrungskette das Systemversagen ausbaden, manchmal auch die Umsetzung überzogener Ansprüche letztlich aus der eigenen Tasche oft aber zumindest mit seiner Lebenskraft bezahlen, während sich die Politik in Vier-Jahres-Stufen immer weiter auf der Leiter nach oben bewegt, dabei zwangsläufig zunehmend den Kontakt zum Boden verliert und sich dann wundert, dass so manches ins Wanken gerät.
Doch das Ende der Hochkonjunktur naht. Darin sind sich alle Experten einig. Ich frage mich, wie hart der Aufprall beim unvermeidlichen Bodenkontakt sein wird und wie dann das von der Politik geförderte Anspruchsverhalten bedient werden soll.
Von überbordender Bürokratie und zunehmender Belastung für Psychotherapeuten und Ärzte möchte ich jetzt eigentlich nicht reden. Nur am Rande etwas zum Thema Realitätsverlust so manches Verantwortlichen. Kürzlich wurde mir von Politikern entgegengehalten, dass die DSGVO seit zwei Jahren schon gilt und aus diesen und jenen Gründen sinnvoll sei. Das mag richtig sein, ändert doch aber nichts an ihren Auswüchsen, die, so glaube ich, besonders in Deutschland gelebt und geduldet werden und an den wieder zunehmenden Mühen auch für uns. Der Vorsitzende einer Fraktion im Landtag bekannte öffentlich, dass er nun den Mitgliedern seines Kreisverbandes keine Geburtstagskarten mehr schicken dürfe, da es sich um persönliche Daten handele. Das Leipziger Rathaus streicht rückwirkend aus gleichem Grund Kandidatennamen aus den amtlichen Online-Wahlberichten. Das stand am 21. Juni 2018 in der Leipziger Volkszeitung, nicht am 1. April! Ich habe es satt, mich mit dafür rechtfertigenden politisch korrekten Begründungen auseinanderzusetzen. Grüße aus Absurdistan!
Dennoch, Ihnen und uns allen einen schönen und erholsamen Sommer, der Kraft und Hoffnung erhält!
Ihr Stefan Windau