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KVS-Mitteilungen

KVS-Mitteilungen - Ausgabe 07-08/2018

Grundrechte im Wandel der Zeit - nur keine Besserung

Das Gesetz zur klinischen und epidemiologischen Krebsregistrierung im Freistaat Sachsen (SächsKRegG) erfordert eine Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die seit 20 Jahren geltende Lösung wurde in diesem Jahr modifiziert. Eine verlässliche Datenlage ist in Frage gestellt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

im Freistaat Sachsen gibt es bereits seit über 20 Jahren positive Erfahrungen mit der flächendeckenden klinischen Krebsregistrierung. Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung und zur Qualitätssicherung durch klinische Register wurden 2013 alle Bundesländer verpflichtet, flächendeckend klinische Krebsregister (KKR) einzurichten und zu betreiben. Ziel des Gesetzes ist, eine bundesweit einheitliche und valide Datengrundlage für eine effektive Auswertung und Bewertung der onkologischen Versorgungslandschaft zu schaffen. Das Hauptziel der klinischen Krebsregistrierung ist nunmehr die Erfassung und öffentliche Bereitstellung von Informationen, anhand derer sich der Stand der onkologischen Versorgungsqualität sowohl in Bezug auf die Struktur-, Prozess- als auch Ergebnisqualität abbilden lässt und sich Maßnahmen für qualitative Verbesserungen in der Versorgung entwickeln und überprüfen lassen. Die klinische Krebsregistrierung wird somit zum wesentlichen Instrument der onkologischen Qualitätssicherung. Im Nationalen Krebsplan werden deshalb folgende Verwendungsmöglichkeiten der in den KKR erhobenen Daten hervorgehoben:

  • Eine vollzählige und vollständige klinische Krebsregistrierung ermöglicht die Überprüfung der Implementierung und Wirksamkeit der evidenzbasierten Versorgungsleitlinien (S3-Leitlinien).
  • Anhand der in den Krebsregistern dokumentierten Therapie- und Verlaufsdaten können Nutzen und Wirtschaftlichkeit innovativer Krebstherapien beurteilt werden.
  • Auf Basis der Registerdaten können Qualitätsvergleiche zwischen den verschiedenen Behandlungseinrichtungen vorgenommen werden.
  • Anhand der Qualitätsvergleiche können eventuelle inakzeptable Qualitätsunterschiede zwischen Behandlungseinrichtungen identifiziert und entsprechende Konsequenzen eingeleitet werden.
  • Auswertungen der Registerdaten können Transparenz über Leistungserbringer mit besonders guter Versorgungsqualität schaffen und somit die Auswahlentscheidung der Patientinnen und Patienten unterstützen.

Klinisches und epidemiologisches Krebsregister (KKR und GKR)

Von der klinischen Krebsregistrierung zu unterscheiden ist die epidemiologische Krebsregistrierung, die ausschließlich Erkenntnisse über das Auftreten und die Häufigkeit von Krebserkrankungen in einer Region und deren Verteilung nach Alter und Geschlecht und zur Mortalität liefert. Der Freistaat Sachsen betreibt dazu gemeinsam mit Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen das Gemeinsame Krebsregister (GKR) mit Sitz in Berlin. Zwischen den KKR und dem GKR besteht traditionell eine enge Zusammenarbeit.

Grundlage für die Datenerhebungen des GKR ist das Sächsische Krebsregistergesetz von 1997. Es verpflichtet jeden Arzt im Falle von Krebserkrankungen, bestimmte Sachverhalte an das GKR zu melden. Damit ist eine Einschränkung des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung, das Recht des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen, verbunden.

Zur Rechtfertigung eines solchen Grundrechtseingriffs hat sich der damalige Sächsische Datenschutzbeauftragte nachvollziehbar positioniert. „Was nun ausgerechnet einen Datenschutzbeauftragten dazu veranlassen kann, sich dafür stark zu machen, dass von der Möglichkeit, eine abweichende Regelung (Anmerkung: zur Meldepflicht) zu treffen, dadurch Gebrauch gemacht wird, dass an Stelle des widerspruchsabhängigen Melderechts die angeblich weniger „humane“, angeblich bürgerrechtswidrige, also widerspruchsunabhängige Meldepflicht gesetzt wird?“ ist im Sächsischen Ärzteblatt 7 /1997 nachzulesen.

Prüfung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip enorm wichtig

Jegliche Eingriffe in persönliche Rechte, die im Falle eines öffentlichen Interesses als zulässig gelten, bedürfen einer Prüfung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Dieser Grundsatz gehört zum elementaren modernen Konzept eines Rechtsstaates. In dem Beitrag wird vom damaligen Sächsischen Datenschutzbeauftragten nachvollziehbar dargestellt, weshalb die Mittel zum Erreichen des Zweckes der Meldung geeignet, erforderlich und angemessen sind und deshalb die Einschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung in diesem Zusammenhang verhältnismäßig und damit zulässig sind.

90 Prozent Vollzähligkeitsquote erforderlich

Um die Ziele der klinischen Krebsregistrierung erreichen zu können, muss das SächsKRegG Regularien schaffen, die eine lückenlose Dokumentation möglichst aller Behandlungsverläufe rechtssicher ermöglicht. Aus diesem Grund wurde im Referentenentwurf des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz vom August 2017 die Widerspruchsunabhängigkeit der klinischen Krebsregistrierung im Freistaat Sachsen, in Analogie zur seit 1997 bestehenden gesetzlichen Regelung für die epidemiologische Krebsregistrierung, gefordert.

In der Begründung zum Referentenentwurf wurde folgerichtig festgestellt: „Das Gesetz gewichtet im Ergebnis das öffentliche Interesse an der Qualitätssicherung und den Forschungsergebnissen der Onkologie höher als das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht unbeschränkt und kann in Abwägung mit höherwertigen Interessen der Allgemeinheit, gemäß Artikel 33 Satz 3 der Verfassung des Freistaates Sachsen, beschnitten werden. Ein solches Gesetz stellt das SächsKRegG dar. … Ein Widerspruchsrecht würde eine unberechenbare Entwicklung der nicht erfassten Fälle zulassen und es bestünde keine Möglichkeit, einem Unterschreiten der 90 Prozent Vollzähligkeitsquote entgegenzuwirken.“

Sächsischer Datenschutzbeauftragter: Freie Entscheidung des Einzelnen im Vordergrund

Dazu positioniert sich der amtierende Sächsische Datenschutzbeauftragte im Rahmen der schriftlichen Anhörung im September 2017 u. a. wie folgt: „Die Erfassung in den klinischen Krebsregistern nutzt nicht dem jeweiligen behandelten Betroffenen, sondern der Gesamtheit der nachfolgenden Patienten und forschenden Medizinern. Die Datenerhebung mag – ethisch gesehen – übergreifend und in die Zukunft gerichteten Zwecken dienen. Es muss dann aber noch die freie Entscheidung des Einzelnen bleiben, ob er die ihn betreffenden Daten, auch wenn deren Verarbeitung unter diesen Umständen nicht unmittelbar patientennützlich ist, in einem klinischen Register in anderen Behandlungszusammenhängen vermittelt und offenbart haben will. Der Gang zum Arzt mit dem Hintergrund einer schweren und nicht selten für den Einzelnen schicksalshaften Erkrankung sollte in Sachsen nicht noch mit einer zwangsweisen Kollektivierung im Rahm einer klinischen Krebsregisterdatenverarbeitung beschwert werden. … Ich fordere Sie auf, offenzulegen, welche einseitig zugunsten der medizinischen und forschenden Entitäten sich ergebenden Vorteile für den Entwurf ausschlaggebend gewesen sind.“

Prüfung der Verhältnismäßigkeit fehlt

Bei der Bewertung, ob der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen muss, wird die 1997 akzeptierte Abwägung zur Verhältnismäßigkeit durch ethische Skalierungen, die sich mit den Voraussetzungen und der Bewertung menschlichen Handelns befassen, abgelöst. Eine eigentlich zu erwartende Prüfung der Verhältnismäßigkeit erfolgt aktuell augenfällig nicht.

In der Folge wurde der Referentenentwurf überarbeitet. Im Gesetzentwurf wird nunmehr die Einschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung in Bezug auf die Datenerfassung und -verarbeitung im GKR, wie im Jahr 1997 für Sachsen einstimmig im Landtag festgestellt, uneingeschränkt aufrechterhalten. Für die Datenerfassung und -verarbeitung im KKR wird die Einschränkung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung in diesem Umfang für nicht erforderlich und angemessen erachtet. Entsprechend wurde hier die Widerspruchsmöglichkeit zur Datenspeicherung umgesetzt. Gleiches wird ungleich behandelt!

Der vorgelegte Gesetzentwurf der Staatsregierung wurde in erster Lesung vom Sächsischen Landtag nicht angenommen und zur weiteren Bearbeitung an den Ausschuss für Soziales und Verbraucherschutz, Gleichstellung und Integration überwiesen. Hier erfolgte im Januar 2018 eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen.

Nur bei valider Datenlage kann Patienten optimal geholfen werden

Die Sachverständigen haben in ihren Ausführungen die elementare Wichtigkeit der Meldepflicht mehrfach hervorgehoben. Ausschließlich eine ausreichende Vollzähligkeit und Vollständigkeit der erfassten Daten führt zu belastbaren Ergebnissen zur Beschreibung der regionalen Versorgungssituation. Nur mit einem Erfassungsgrad von über 90 Prozent der Fälle ist eine unverzerrte Bewertung der Daten möglich. An diesen statistischen Verfahren zur Bewertung von repräsentativen und gleich verteilten Stichproben hat sich in den letzten 20 Jahren nichts geändert. Für kleine Fallzahlen kommen große Konfidenzintervalle zustande, die eine Bewertung von Unterschieden unmöglich machen. In der öffentlichen Anhörung wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Aufweichung der Meldepflicht zu Datenverzerrungen führen kann. Beispielhaft angeführt seien: sozialer Status, Inanspruchnahme alternativer Behandlungsmethoden, Stadt-Land-Verschiebungen, Behandlung in einem Organzentrum oder Nichtzentrum oder auch die Möglichkeit, sich einer Qualitätskontrolle entziehen zu wollen.

Transparenz schaffen auf Basis valider Daten, das sind die Aufgabenstellungen im Nationalen Krebsplan. Die Informationen sollen Grundlage für aktuelle Entscheidungen onkologischer Patienten mit hoher Tragweite sein. Die KKR sind dabei regionale Qualitätssicherungszentren. Diese Kernaufgaben der neu zu schaffenden KKR wurden in der schriftlichen Anhörung des Sächsischen Datenschutzbeauftragten vollständig ausgeblendet. Nicht forschende Entitäten, sondern das Wohl an Krebs erkrankter Patienten und ihr Recht auf eine optimale Behandlung sind das Ziel der vom Nationalen Krebsplan angestrebten Vereinbarungen.

Der Verzicht auf das Widerspruchsrecht zur Meldung und Verarbeitung von Erkrankungs- und Behandlungsdaten in den KKR scheint aus Sicht der angehörten Sachverständigen mehr denn je geeignet, erforderlich und angemessen, also verhältnismäßig, denn nur damit werden wir in die Lage versetzt, Behandlungsstrategien zu optimieren, Versorgungsprobleme zu erkennen, Fehler zu minimieren und die Patientenzufriedenheit zu erhöhen.

Weitere Kritikpunkte u. a. zur Meldefrist, zu Regelungslücken und zu den Sanktionen sind im Protokoll des Sächsischen Landtages (Drucksache 6 / 11251 und 6 / 13024) für den Interessierten nachzulesen.

Mit Widerspruchslösung 95 Prozent Zustimmungsquote

Der Gesetzentwurf wurde vom Ausschuss für Soziales und Verbraucherschutz, Gleichstellung und Integration im April 2018 abschließend beraten. Hier ist im Protokoll vermerkt: „Der Sächsische Datenschutzbeauftragte führte aus, nach der Anhörung habe man sich noch einmal mit dem Thema „Widerspruch, Einwilligung“ auseinandergesetzt. Die Erfahrung zeige, dass bei Einwilligungslösungen (zum Beispiel zur Transplantation) eine Zustimmungsquote von 20 bis 30 % erreicht werde. Bei einer Widerspruchslösung erreiche man in der Regel eine Zustimmungsquote von 95 %. Die Entscheidung, welche Lösung man wähle, mache schon etwas für die Qualität eines Registers aus. Deshalb werde nicht auf einer Einwilligungslösung bestanden, sondern der Aspekt der wissenschaftlichen Auswertbarkeit werde mit einer Widerspruchslösung aus Sicht des Datenschutzbeauftragten durchaus erreicht.“

Es geht um kontinuierliche Qualitätssicherung im Sinne der Patienten

Ob diese Sicht auf die Dinge dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit dem Eingriff in Grundrechte genügt, bleibt dabei weiter offen. Klar ist, sinkt die Vollzähligkeitsquote unter 90 Prozent, dann sind die getroffenen Regelungen im SächsKRegG zum Erreichen des Zieles nicht geeignet. Die dann nicht in ausreichender Qualität vorliegenden oder fehlenden Informationen stellen einen erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit für Betroffene dar. Ob das verhältnismäßig ist oder gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstößt, muss hinterfragt werden. Ein Blick auf öffentlich verfügbare Statistiken des GKR (https://www.berlin.de/gkr/_assets/vollzaehligkeit-2017-11-fuer-web.pdf) könnte bereits heute zur Ernüchterung in Bezug auf Vollständigkeit von Registern im Zusammenhang mit länderspezifischen Regelungen führen. Unverändert ist im Protokoll von „Wissenschaft“ die Rede. Man hat offenbar immer noch nicht verstanden, dass es mit dem Gesetz um eine kontinuierliche Qualitätssicherung bei der Versorgung onkologischer Patienten in Sachsen geht.

Letztlich räumt das sächsische Parlament im Jahr 2018 dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einen höheren Stellenwert ein. In der kontroversen Debatte war von Zeitnot die Rede und von Regelungen, die zum Beispiel in Thüringen oder Niedersachsen ganz anders getroffen sind. Eingebrachte Änderungsanträge zum Gesetzentwurf, die die Kritikpunkte der Sachverständigen konsequent aufgegriffen haben, wurden mehrheitlich vom sächsischen Parlament abgelehnt.

Man wird nun das weitere Meldeverhalten in Sachsen evaluieren und dann eventuell nochmals ergebnisoffen überlegen (müssen), ob das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit doch eventuell höher zu bewerten wäre als das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die europäische Datenschutzgrundverordnung scheint zumindest an dieser Stelle Ausnahmen vorzusehen, die man dann im Sinne onkologischer Patienten bei einer stringenten Abwägung der Verhältnismäßigkeit, die nicht nur in früheren Zeiten legitim gewesen sein kann, in Entscheidungen einfließen lassen sollte.

Wir wollen den Krebs nicht verwalten und die Erkrankten und Verstorbenen zählen oder mit mehr oder weniger großer Fehlerbreite auf Grundlage der Daten des GKR abschätzen. Das hat man im vergangenen Jahrhundert mangels ausreichender technischer Möglichkeiten so gemacht.

Wir wollen bei einer zunehmend alternden Bevölkerung Krebs geeignet behandeln, weil wir heute in diesem Land dazu in der Lage sind! Dazu brauchen wir eine verlässliche Datengrundlage auf dem Fundament von Behandlungs- und Verlaufsdaten, wie sie vom Nationalen Krebsplan skizziert werden. Eine suffiziente gesetzliche Regelung muss unter strikter Beachtung der Verhältnismäßigkeit dafür eine rechtssichere Grundlage im Sinne unserer Patienten schaffen.

Mit kollegialen Grüßen
 

Ihr Klaus Hamm