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Neuer Aufschlag - neue Chancen?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ein großer Wurf, das ist er wahrlich nicht: der Koalitionsvertrag der gar nicht mehr so großen „Großen Koalition“. Wen wundert’s? Doch das Potenzial dieses Epos mit Blick auf seine mittel- und langfristigen Wirkungen, gerade bei den Themen Pflege und Gesundheit, zu unterschätzen, wäre grob fahrlässig.

Mit mehreren kleinen Würfen, in jeder Legislaturperiode, zwar mit kleinen Schlenkern, aber immer in die gleiche Richtung, kommen die Akteure gefahrloser und passgenauer zum Ziel als mit einem großen Wurf. Das wissen natürlich auch Karl Lauterbach und Jens Spahn, die immer maßgeblich die Bälle geworfen und sich den einen oder anderen Ball auch zugespielt haben. Das dürfte sich bei diesem Tandem nicht ändern. Der über die Zeit systematisch ermüdete, jetzt etwas unaufmerksam gewordene Beobachter reibt sich am Ende die Augen, wo der Ball letztendlich gelandet ist: möglicherweise weiter entfernt als bei einem großen Wurf.

Lassen Sie mich nur einige pars pro toto herausgreifen. Die geplante Bund-Länder-
Arbeitsgruppe unter Einbeziehung der Regierungsfraktionen des Deutschen Bundestages „wird Vorschläge zu einer sektorenübergreifenden Versorgung des stationären und ambulanten Systems im Hinblick auf Bedarfsplanung, Zulassung, Honorierung, Kodierung, Dokumentation, Kooperation der Gesundheitsberufe und Qualitätssicherung unter Berücksichtigung der telematischen Infrastruktur bis 2020 vorlegen“. „Den Ländern werden künftig in den Beratungen zur Bedarfsplanung und zu allen Aspekten der Qualitätssicherung die gleichen Rechte und Pflichten wie den Patientenvertretern eingeräumt.“ (Dies bezieht sich auf den Gemeinsamen Bundesausschuss.)

Zusätzlich wird geplant, den Bundesländern auch ein Mitberatungs- und Antragsrecht in den gemeinsamen Zulassungsausschüssen von KV en und Krankenkassen einzuräumen. Die Themen haben wir alle schon einige Male gehört, werden Sie sagen. Das stimmt. Aber jetzt wird ein Weg eingeschlagen, dass der Staat zum dominierenden Player in der Selbstverwaltung wird – und schon ist der Weg in die Staatsmedizin nicht mehr weit. Mancher wird meine Meinung als Übertreibung und Schwarzmalerei sehen. Ich wünsche mir, dass ich nicht recht behielte. Wir dürfen darauf gespannt sein, was uns dann ab 2021 erwartet, vorausgesetzt, die GroKo hält so lange durch.

Wieder vermisse ich belastbare Aussagen zur Strukturierung der Inanspruchnahme des Systems der ambulanten und stationären Versorgung, innerhalb und zwischen den Ebenen. Da müsste die Politik ja auch Farbe bekennen – nämlich ihren Wählern gegenüber – und hier wird wieder gekniffen. Die Bedarfsplanung für die Arztsitze soll kleinräumiger, bedarfsgerechter und flexibler gestaltet werden. Das Thema ist ein Dauerbrenner, zuletzt im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz 2015 verortet. Nur, neue Ärzte schaffte das bisher alles nicht! Ob denn diesmal wohl zumindest ein paar vernünftige Regelungen herauskommen werden?

In ländlichen oder strukturschwachen Gebieten sollen Zulassungssperren entfallen. Mein Deutschlehrer hätte festgestellt: „Am Thema vorbei“. Nicht die mangelnden Niederlassungsmöglichkeiten sind das Problem, sondern der deutliche Verfall von Infrastruktur und sozialen Teilhabemöglichkeiten, die zunehmende Abwanderung aus diesen Gebieten und Problemverdichtung in diesen. Die Kolleginnen und Kollegen können ihre Praxen, wenn sie sie abgeben wollen, teils nur noch verschenken. Die Prognose für unseren Sozialstaat, die Wahrung des Grundrechts auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und letztlich den Erhalt des sozialen Friedens hängen ganz wesentlich auch davon ab, ob und wie es der Politik gelingt, hier grundsätzlich etwas zu bewegen und nicht nur völlig wirkungslose Placebos zu verteilen, wobei die medizinisch verwendeten wenigstens noch etwas Positives bewirken, die politischen dagegen nur Frust.

Sowohl der EBM als auch die GOÄ „müssen reformiert“ werden. Die Beratungen dazu sollen 2019 abgeschlossen sein. Ob die Vorschläge umgesetzt werden, „wird danach entschieden“. Dies ist Ausdruck des Vertagens im Kampf um die Bürgerversicherung. Es passt aber auch anders gut in die politische Konstellation. Entweder man braucht später diese Regelungen nicht mehr, weil der Systemumbau konsentiert ist, oder aber man nutzt genau dieses Mittel, um die Bürgerversicherung durch die Hintertür einzuführen.

Auf die GOÄ-Novellierung werden wir wohl noch lange warten müssen, wenn sie denn je kommt. Nichtsdestotrotz – das Honorarsystem muss strukturell verändert werden, möglicherweise bieten sich hier auch Chancen. Denn auch die Selbstverwaltung hat nicht immer klug und adäquat reagiert. Allerdings ist dies eben auch dem Korsett der politischen Rahmenbedingungen anzulasten – Ulla Schmidts Saat geht auf.

Die Terminservicestellen sollen nun auch haus- und kinderärztliche Termine vermitteln. Einerseits scheint es irgendwie nachvollziehbar, andererseits mutet es hilflos an. Wann wird die Politik endlich den Mut haben, die Inanspruchnahme zu strukturieren? „ Ich, alles und sofort“: Diesem egomanischen Prinzip, mittlerweile fast schon eine Grundeigenschaft unserer narzisstischen Gesellschaft und ein Hauptwirkfaktor zu ihrer weiteren Zerstörung, darf offenbar nicht entgegengetreten werden. Wie sollte es denn in der medizinischen Versorgung anders sein als sonst in der Gesellschaft?

Die Verpflichtung, künftig mit 25 statt 20 wöchentlichen Sprechstunden für die Versorgung von GKV-Versicherten zur Verfügung zu stehen, hört sich in unseren Breiten – harmlos formuliert – als schlechter Witz an, andere werden es als Hohn empfinden.

Die hausärztliche und die sprechende Medizin sollen besser vergütet werden. Dies ist grundsätzlich klar zu befürworten, wenn es mit einem Systemwandel verbunden würde, der die Fehlanreize beseitigt. Sowohl Haus-und Fachärzte als auch die Psychotherapeuten müssen für Zuwendung und Behandlung adäquat honoriert werden! Ich hoffe, dass der dennoch richtige Grundansatz sinnvoll ausgestaltet wird – und nicht schon dadurch ad absurdum geführt wird, dass wir das alle wieder selbst (aus der Gesamtvergütung) bezahlen sollen?!

Es wird spannend. Der neue Gesundheitsminister wird wohl nicht wie sein Vorgänger Hermann Gröhe als disziplinierter Parteisoldat den Koalitionsvertrag 1 : 1 umsetzen, und der zum Dank dafür in der politischen Versenkung verschwunden ist. Jens Spahn strebt unübersehbar nach Höherem. Das macht ihn schwerer berechenbar als seinen Vorgänger. Sehr wahrscheinlich kommt mit Jens Spahn manches anders als wir es uns heute vorstellen, es fragt sich nur – wie!

Mit freundlichen kollegialen Grüßen



Ihr Stefan Windau