„Digitale Dämmerung“
– so titelte kürzlich das „Handelsblatt“ – mit Blick auf den notwendigen Strukturwandel in Europas Energiewirtschaft und auf die Folgen, wenn die Bedeutung der Digitalisierung dabei unterschätzt würde. So oder ähnlich wird allerorten und in fast allen Medien argumentiert, bezogen auf fast alle Bereiche der Gesellschaft im Kontext der Digitalisierung.
Zweifelsfrei bietet die Digitalisierung auch in der Medizin riesige Chancen für Diagnostik, Therapie, aber auch für die Struktur der medizini-schen Versorgung schlechthin. Keiner von uns kann die Menge an Daten und gesammelten Erkenntnissen in sich parat haben, die eine intelligente digitale Struktur blitzschnell zur Verfügung stellen kann. Damit wird sich notwendigerweise auch das Verhältnis von Arzt und Patient ändern, was auch an uns andere Anforderungen stellen wird. Davor ist mir aber nicht bange. In zunehmendem Maße wird der Arzt gebraucht werden, sicher in etwas anderer Rolle, aber als der, der neben dem Wissen die Erfahrung, Empathie und die Fähigkeit zur Integration mitbringt. Ich sehe große Chancen durch die Digitalisierung für Patienten, Ärzte und für die gesamte Versorgungslandschaft, die medi-zinischen Fachberufe eingeschlossen.
Nur folgerichtig ist es, dass bundesweit und auch in Sachsen die Politik entsprechende Programme auflegt, die den digitalen Wandel auch im Gesundheitsbereich unterstützen sollen.
Gestatten Sie mir bitte einige allgemeine, nicht medizinspezifische Anmerkungen. Die Digitalisierung kommt, „so oder so“. Das stimmt, doch stört mich zunehmend der geradezu von Inbrunst getragene Hype, mit der diese Thematik in weiten Kreisen unserer Gesellschaft ziemlich unreflektiert einseitig befördert wird, als würde die Digitalisierung die Probleme dieser Welt lösen. Zugegeben, ich bin etwas spitz und provozierend, das aber deshalb, weil diejenigen, die kritisch nachfragen, die vielleicht auch etwas länger „nach“-denken als „vor“-denken, oft als ewig gestrige, beratungsresistente und die Entwicklung verschlafende Zeitgenossen abqualifiziert werden.
Wollen wir die Digitalisierung, da sie sowieso kommt, „so oder so“, hinnehmen, oder wollen wir sie anders, als manche Protagonisten uns glauben machen wollen, dass sie so kommen müsste, wie sie eben jetzt kommt oder kommen soll?
Oder einfacher gesagt: Wissen wir alle wirklich schon, was wir wollen?
Schon vor Jahrzehnten warnte der Club of Rome, nicht gerade durch Unerfahrenheit, Unwissenheit und unterdurchschnittliche Intelligenz seiner international hoch angesehenen Mitglieder gekennzeichnet, vor den Grenzen des Fortschritts. Kein Geringerer als der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker setzte sich schon 1977 in seinem anthropologischen Standardwerk „Im Garten des Menschlichen“ mit der Ambivalenz des Fortschritts auseinander, noch in völliger Unkenntnis von Internet und Digitalisierung.
Zur Veranschaulichung, absichtlich etwas abseits von Medizin: Für Schulen wird gefordert, schon die Jüngsten mit Laptops, WLAN etc. auszustatten, Digitalisierung sozusagen von Anfang an. Nur dann kann Bildung im internationalen Kontext der Wettbewerbsfähigkeit etc. gelingen. Hier empfehle ich das Buch „Digitale Demenz“ von Manfred Spitzer, Direktor der Psychiatrischen UNI-Klinik Ulm, der gerade eben durch diese nun angestrebte Umgestaltung Gefahren für junge Menschen sieht. An dieser Stelle geht es mir nicht darum, welche Hypothese stimmt, aber ich vermisse eine breite soziale Diskussion zu Chancen und Risiken.
Die Digitalisierung – „so bedeutend wie der Buchdruck“ – so Sebastian Thrun, Vizepräsident Deutschland bei Google. Dazu der Soziologe Harald Welzer: „Wer glaubt, die schöne neue Welt der Bits, Bytes und Clouds überwindet die ökologische und ökonomische Schwerkraft, täuscht sich gewaltig“. Wer hat Recht? – Vermutlich Beide!
Wie gehen wir eigentlich damit um, mal abgesehen vom Datenschutz, dass durch die Digitalisierung die sozialen Mechanismen zunehmend von Google, Amazon und anderen internationalen Playern in Zukunft stärker beeinflusst werden als durch politische Strukturen und Staaten?
„Analoges“ gilt für unser Denken und Handeln. Was passiert im Verhältnis von Mensch, Maschine und künstlicher Intelligenz? Sascha Lobo, zweifelsfrei ein passionierter Internetuser und profunder Kenner der Digitalisierung, sagte auf dem diesjährigen Deutschen Ärztetag in Freiburg – sehr nachdenklich –, dass die Epoche der Verschmelzung von Mensch und Maschine begonnen habe. Wie gehen wir damit um? Kopf in den Sand und weiter so? Was machen diese Entwicklungen mit uns und in uns?
Vielleicht wird die Digitalisierung nicht nur so bedeutend wie die Erfindung des Buchdrucks, vielleicht sogar bedeutender? Wir wissen es nicht. Diese unsere Zeit ist geprägt von zunehmenden Divergenzen und Spannungen. Wir müssen aufpassen, bei allen Chancen, die die Digitalisierung hat, dass wir nicht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen und das Ganze aus dem Blick verlieren. Vielleicht wäre aber auch der Vergleich mit dem Zauberlehrling besser …
Mit kollegialen Grüßen
Ihr Stefan Windau