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Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie in Deutschland - Lorenz Heister

Von Manfred P. Bläske
Er war erstaunlich belesen, 12.000 Bände standen in seiner Bibliothek – in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine außergewöhnliche Büchermenge in privatem Besitz eines Gelehrten. Darunter befanden sich die bedeutendsten medizinischen Werke der vergangenen Jahrhunderte. Er besaß mathematisch-physikalische sowie anatomisch-chirurgische Instrumenten- und Kupferstichsammlungen, die nicht ihresgleichen hatten. Er hinterließ umfangreiche anatomische und Naturalien-Sammlungen und ein 66Bände umfassendes „Herbarium vivum“. Er veranlasste regelmäßige meteorologische Messungen und deren Veröffentlichung, und er stand mit Gelehrten vieler Länder in regem Briefwechsel über alle wissenschaftlichen aber auch politischen und kulturellen Fragen seiner Zeit.
Eine Woche nach der Niederlage, welche die Türken bei der Belagerung Wiens erlitten hatten, wurde Lorenz Heister am 19. September 1683 in Frankfurt am Main geboren; ein Ereignis von doppelter Freude für den Vater, einen weit über seine Stadt hinaus geschäftigen Holz- und Weinhändler! – Nach dem Besuch der Bürgerschule absolvierte Lorenz das Gymnasium, dessen Direktor im fleißigen und aufgeweckten Knaben solche Lust und Liebe zur Poesie weckte, dass er in den beiden letzten Schuljahren „deutsche und lateinische Gedichte auf allerlei Vorkommnisse verfertigte“, die seinen Namen bald in ganz Frankfurt bekannt machten. Neben den an der Schule gelehrten Sprachen betrieb er Französisch und Italienisch sowie Musik und Zeichnen und lernte – sicher besaß er recht früh alte, ramponierte Bücher – das Buchbinden.
1702 wurde Heister in Gießen als Medicinae Studiosus immatrikuliert und er absolvierte einen gantzen Cursum Medicum, bevor er mit einem seiner Lehrer für vier Jahre nach Wetzlar ging, wo ihn neben den anderen medizinischen Disziplinen besonders die Anatomie und die Botanik begeisterten. 2000 Pflanzen trug er in kürzester Zeit zusammen, bestimmte und trocknete sie.
Im Sommer 1706 begab er sich nach Amsterdam zum bedeutenden Anatom Fredrik Ruysch (1638 – 1731)*, der seinen Studenten Leichen aus dem städtischen Spital zur Verfügung stellte; so konnte Heister ein ganzes Jahr nicht nur anatomische Studien betreiben, sondern auch Irrtümer anderer Anatomen richtigstellen und Material für sein späteres „Compendium anatomicum“ sammeln. Um seine Kenntnisse anwenden zu können, wurde er 1707 Militärarzt in holländischen und englischen Feldlazaretten, wo ihm auch der Chrirurg Jan Palfyn (1650 – 1730)** begegnete.
Danach studierte Heister in Leyden beim Kliniker und Reformator des medizinischen Unterrichts Hermann Boerhaave (1668 – 1738) Chemie und Ophthalmologie und lernte das Glasschleifen, um Mikroskope bauen zu können. Nach 1708 erfolgter Promotion ließ er sich in Amsterdam nieder, hielt Vorlesungen in Chirurgie und – den alternden Ruysch unterstützend – in Anatomie. Aber schon ein Jahr später wurde er an die berühmte fränkische Universität Altdorf berufen, die von 1623 bis 1814 bestand. Hier blieb er zehn Jahre und begründete seinen Ruf als Chirurg.
Inzwischen waren Heisters Bibliothek und seine zahlreichen Sammlungen so umfänglich geworden, dass es logistischen Scharfsinns bedurfte, als der 36-Jährige 1719 als Professor für Anatomie und Chirurgie nach Helmstedt berufen wurde; wo er sich endgültig niederließ.
Heister wurde der erste Universitätsprofessor für Chirurgie, der dieses Fach wieder zu einer Wissenschaft machte, nachdem es jahrhundertelang von Scharlatanerie, Unwissen und Aberglaube gekennzeichnet war. Darin liegt – vor anderem – die medizinhistorische Bedeutung dieses Mannes.
Sein großes theoretisches und praktisches Wissen, seine rethorischen und didaktischen Fähigkeiten erlaubten es ihm, ein gewaltiges Werk in Angriff zu nehmen, die Chirurgie, In welcher alles, Was zur Wund-Artzney gehöret, Nach der neuesten und besten Art, gründlich abgehandelt, und in Acht und dreyßig Kupffer-Tafeln die neu erfundene und dienlichste Instrumente, Nebst den bequemsten Handgriffen der Chirurgischen Operationen und Bandagen deutlich vorgestellt werden.
Es war eine für jene Zeit beispielhafte Publikation, mit der Heister das gesamte zeitgenössische chirurgische Wissen, geprüft und geläutert an eigenen Erfahrungen, auf wissenschaftlicher Grundlage darstellte. Nicht eine besondere chirurgische Einzelleistung, sondern dieses bald weit verbreitete Werk machte seinen Verfasser zum größten Chirurgen im Europa des 18. Jahrhunderts.
Der bis an sein Lebensende rastlos tätige Heister starb 75-jährig auf der Höhe seines Ruhmes während einer Konsultationsreise ins braunschweigische Königslutter am 18. April 1758.
*) Peter der Große kaufte während seines legendären Aufenthalts in Holland für 20.000 Gulden Ruyschs große anatomische Sammlung, die jedoch nur zu einem kleinen Teil nach Petersburg gelangte, weil die Matrosen den Spiritus austranken.
**) Palfyn (auch Palfijn) entwickelte 1723 die später nach ihm benannte Geburtszange.